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Reise ins Ungewisse

Nur selten haben Europameisterschaften solch eine Bedeutung. Die EM im Polen ist erste und zugleich letzte Regatta 2020, auf der sich die Athleten zeigen und sich der Konkurrenz stellen können. Die Regatta der Elite vom 9. – 11. Oktober in Poznan ist einziger Maßstab und Meilenstein für den internationalen Vergleich.

Vom großen internationalen FISA-Regattakalender für das Jahr 2020 ist als einzige europäische Regatta von Rang die EM in Polen übrig geblieben. WM, Weltcups, Olympia-Qualifikation und Olympische Spiele selbst – alles gestrichen aufgrund der Corona-Pandemie. Deshalb ist mit Sicherheit zu erwarten, dass bei dieser Veranstaltung die anderen Nationen ihre Top-Leute entsenden. Ähnlich wie in Duisburg ist das Ganze in der Vorbereitung allerdings ein Schuss ins Blaue, denn die Leistungen der Gegner sind allen Beteiligten weitgehend unbekannt. Ergometerwerte der im Februar ausgetragenen Weltmeisterschaften in Paris sind einziger verlässlicher Richtwert und Maßstab, um den Gegner einschätzen zu können – ungefähr so zuverlässig wie der Blick in die Glaskugel. Wie gut oder schlecht die einzelnen Sportler durch die Corona-Zeit gekommen sind, darüber lässt sich nur spekulieren. Es gibt keine Offenlegung der Trainingsmaßnahmen oder eine Bekanntheitspflicht interner Ausscheidungen aller Nationen.

Die Einzigen, die ihre Aufgaben und Vorgaben genauestens kennen, sind die Organisatoren vom polnischen Regattastab. Er hat Rückendeckung durch das gute Vorbild der Duisburger U23-Regatta, die mit ihrem Konzept letzte Zweifler überzeugen konnte. Wie in Duisburg wird auch in Polen wohl das Tragen von Masken in bestimmten Bereichen Pflicht sein. Die Zuschauer müssen zwar draußen bleiben, aber dafür wird sich bei diesen Europameisterschaften das Fernsehen einschalten. In der sportlichen „Saure-Gurken-Zeit“, in der bisher nur Fußball und ein paar andere Events medial glänzten, kann man tatsächlich darauf vertrauen, dass es ordentlich Sendezeiten in rudersportlich interessierten Ländern geben wird. Dazu zählt natürlich auch Deutschland, das immer noch im Kontingent der bedeutenden Rudernationen weilt.

Regattabereich kann abgetrennt werden

Poznan ist auch unter Corona-Bedingungen eine ideale Regattastrecke. Der Maltasee dient als Naherholungsgebiet, liegt an der Peripherie der Stadt, bietet seinen Besuchern außerdem Kletterpark, Einkaufszentrum und Restaurants. Der komplette Bereich des eigentlichen Regattabetriebs, also Ziel, Bootlagerung, Funktionsgebäude und Catering, kann gezielt abgeschottet werden, weil das Gelände überall Zäune hat und genaue Eintrittskontrollen möglich sind. Soweit das Sicherheitskonzept der Polen bekannt ist, wird es ähnlich ablaufen wie in Deutschland, zumal der Vorsitzende des European Board, Ryszard Stadniuk, das ganze Wochenende in Duisburg gewesen ist.

Bekannt ist, dass maximal 250 Athleten zugleich an der Strecke sein dürfen. Das wirft zeitliche, aber auch logistische Probleme auf: Trainings- und Rennzeiten müssen darauf abgestimmt werden, die Athleten zwischen Regattabahn und Hotel pendeln. Der DRV wird deswegen mit Kleinbussen anreisen. Das ist aufwändig, vor allem für den Achter mit Stützpunkt Dortmund. Berlin und Ratzeburg haben dagegen deutlich geringere Fahrzeiten. Aber sicherer und flexibler ist es allemal.

Wie stark das DRV-Team sportlich einzuschätzen ist, werden Sportler, Trainer, Funktionäre, aber eben auch die Konkurrenz erst im direkten Wettkampf erfahren. Doch dieses Handicap gilt für alle Nationen gleichermaßen. Die deutsche Mannschaft wird in Poznan so gut wie unter den Umständen möglich vorbereitet sein. Für die Athleten ist es nach der langen Lockdown-Zeit der erste und zugleich einzige große Event, die erste Gelegenheit, sich zu zeigen. Für diese Regatta haben die Ruderer und Ruderinnen in den letzten Wochen und Monaten nach der Trainingsfreigabe hart gearbeitet. „Es ist für uns eine merkwürdige Zeit gewesen“, erklärt Achter-Trainer Uwe Bender, „zuerst nur in den Kleinbooten, dann nach und nach wieder in der normalen Besetzung. Aber mittlerweile ist es im Training fast schon wieder wie vorher.“ Ein großes Problem, dem sich die Sportler stellen mussten, war die Umstellung des Trainings. Es gab viel Training im Kraftraum und auf dem Ergometer, aber viel Konditionsarbeit wurde, wie man auch in den sozialen Medien durch die Berichte einzelner Sportler beobachten konnte, auf dem Fahrrad geleistet. Ein Faktor, der im Gegensatz zu Training auf dem Wasser die Gefahren des Straßenverkehrs in sich birgt. „Es gab ein paar Unfälle“, berichtet Uwe Bender. So wurde der Krefelder Laurits Follert beim Radfahren von einem Auto übersehen und brach sich bei dem Zusammenstoß das Jochbein. „Zum Glück nur dies“, wie der Coach meint. Denn obwohl Follert bei einer Gesichts-OP Metallplättchen eingesetzt bekam, waren die ruderspezifischen Körperpartien nicht beeinträchtigt und er konnte einigermaßen zügig wieder ins Training einsteigen. Da hatte Olaf Roggensack weniger Glück im Unglück, denn der Berliner stürzte schwer und musste an der Schulter operiert werden – ein wochenlanger Ausfall war die Folge.

Die Zeiten sind bereits gut und das Bootsgefühl ist zurückgekehrt

Mittlerweile sind aber alle wieder fit und brennen darauf, zur EM zu fahren. In Ratzeburg bei den internen Vergleichen fast aller Disziplinen zeigte sich, dass die Zeiten bereits gut sind und auch das Bootsgefühl zurückgekehrt ist. „Alle wollten unter diesen Bedingungen ihr Bestes geben“, sagt Bender, der aber auch weiß, dass es für Poznan keine gültigen Prognosen gibt – und auch keine endgültige Sicherheit gegen das Virus. Doch wenn es so kommt wie bei der U23-EM, herrsche bei den internationale Athleten viel Disziplin und man könne auch mit den Risikoländern gut umgehen, obwohl gerade wieder in Tschechien, woher die viele Ruderer von Dukla Prag kommen, ein Hotspot aktiv sei.

Bei den Ruderinnen kann die EM für Marie-Louise Dräger ein wichtiger Schritt in Richtung Tokio werden. Die Weltmeisterin im Leichtgewichts-Einer wurde aus dem noch olympischen leichten Doppelzweier zwar im letzten Jahr herausgenommen, trainiert nach dem Sieg in Linz aber nun mit Heimcoach Björn Lötsch und Partnerin Fini Sturm und hat das Vertrauen der Bundestrainer wieder erhalten. Die beiden werden später zur unmittelbaren Vorbereitung auch nach Ratzeburg umziehen und in Poznan antreten. Danach werden weitere Tests im Spätherbst folgen, bevor endgültig entschieden wird, wer die deutschen Farben in Tokio 2021 vertreten wird, sofern die Spiele dort tatsächlich stattfinden.

Allein die Tatsache, dass die Regatta stattfindet, sorgt für einen Motivationsschub

Vom Start bei der Junioren-EM Ende September haben die Bundestrainer Abstand genommen. Das Risiko eines Starts in Serbien ist zu groß, außerdem müssten nach aktuellem Stand alle Ruderer und Ruderinnen bei ihrer Rückkehr in Quarantäne. Den Junioren und Juniorinnen, die teilweise noch zur Schule gehen und sich auf das Abitur vorbereiten, wäre der Aufwand nicht zumutbar.

Mit dem Virus im Hinterkopf, aber vor allem mit viel Optimismus und dem unbedingten Wettkampfwillen will sich das DRV-Team in Polen präsentieren. Achter-Schlagmann Hannes Ocik hat für sich und die Mannschaft festgestellt, dass allein die Tatsache, dass die EM überhaupt stattfindet, bereits einen riesigen Motivationsschub im Training erzeugt hat. Für alle Fans heißt es: Daumen drücken, daheimbleiben und über den Youtube-Stream der FISA oder die sozialen Medien ihre Sportler anfeuern und auf viele Bilder in ARD und ZDF hoffen. Auf jeden Fall ist diese zweite, „große“ EM das sportliche Highlight des Jahres. Es ist aber auch eine Generalprobe, wie gut und kompetent FISA und die jeweiligen Landesverbände mit den Schutzmaßnahmen zur Durchführung großer sportlicher Veranstaltungen umgehen können – kein unwichtiger Test für die internationalen Regatten im Olympiajahr 2021.

Michael Hein