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Ralf Holtmeyer: der Jahrhundert-Trainer

Von Wolfgang Maennig

Die Trainer-Erfolge von Ralf Holtmeyer sind überwältigend, einzigartig und schwer zu fassen. Hinter jeder Medaille steckt eine lange Vorgeschichte jahrelangen Trainings, mit kalten Wintern im Motorboot, harten Entscheidungen nach Ausscheidungswettkämpfen und meist turbulenten Saisonverläufen.

Immer waren die Medaillen-Rennen hart umkämpft und oft extrem knapp. Für jedes dieser Rennen würde es sich lohnen, hier eine Zusammenfassung zu versuchen, um zu veranschaulichen, welche außergewöhnlichen Leistungen Ralf Holtmeyer mit seinen Athleten vollbracht hat. Ralf Holtmeyer hat nicht nur eine unvergleichliche Anzahl von herausragenden Erfolgen bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften errungen, sondern er hat diese Erfolge auch über einen weltweit einzigartig langen Zeitraum von drei Dekaden (!) erreicht.

In diesen Dekaden ist viel passiert: die Bootsformen und -technik haben sich geändert, die Blattformen wandelten sich von Macon (Holz), über „Big Blades“ zu „Fat Blades“ (Kunststoff). Die Ausleger bestanden zum Anfang der Ära von Ralf Holtmeyer aus fünffach befestigten Alustreben, dann waren es Flügelausleger, später Druckflügelausleger. Stets bedingten solche technischen Änderungen Anpassungen im Ruderstil und in der Komposition des Trainings an Land und im Boot. Auch die Persönlichkeiten der Athleten variierten im Laufe der Dekaden, so wie sich die Lebensauffassungen der jeweiligen Alterskohorten änderten. Ralf Holtmeyer hat diese Entwicklungen aktiv begleitet und hat seine Kompetenz und Dominanz über die Dekaden hinweg bewiesen. Beides, die lange Dauer seiner Erfolgsserie als auch die Zahl seiner Erfolge bilden das einzigartige Lebenswerk dieses Ausnahmetrainers. Der deutsche (Ruder)Sport – nicht nur der deutsche – verneigt sich vor einem Achter-Trainer, dessen Erfolge in Menge und Dauer unübertroffen und einmalig in der Welt sind.

Sein Ausscheiden aus den Diensten des Deutschen Ruderverbandes zum Jahresende 2021 ist ein historischer Moment. Es ist der Moment des Abschiedes von einer glorreichen Epoche, von der es fast unwahrscheinlich ist, dass sie in absehbarer Zeit wiederholt werden kann. Es ist für den deutschen Sport, den Deutschen Ruderverband, seine Vereine und seine Athleten eine einzigartige Situation, in welcher dem Jahrhundert-Trainer Ralf Holtmeyer Dank und tiefer Respekt auszudrücken sind.

Alles begann als Schultrainer in Osnabrück

Die Erfolgsgeschichte von Ralf Holtmeyer beginnt vor seiner Tätigkeit als Trainer des Deutschen Ruderverbandes: Nach einer kurzen, nicht von überragenden Erfolgen gekennzeichneten Phase als Ruderer war er zunächst Schultrainer am Osnabrücker Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium, dann im Osnabrücker Ruderverein (ORV). Hier begann sein kometenhafter Aufstieg, wobei nur wenige Erfolgsstationen genannt werden können: 1978 führte er den Vierer ohne Steuermann des ORV zum Jugendmeister und Juniorenweltmeister; 1979 zum Eichkranzsieger und Senior-B Championatssieger. 1980 setzte sich der von Ralf Holtmeyer trainierte ORV-Vereins-Achter, bestehend aus Athleten, die gerade der Junior-Klasse entwachsen waren, bei der Olympia-Qualifikationsregatta durch. Ein Husarenstück, mit dem Ralf Holtmeyer die damals etablierten Athleten und Trainer der Spitzenkader düpierte. Und die Erfolgsserie in Osnabrück ging weiter, bis 1984, wo er mit den Osnabrücker Zweier-Ruderern Thomas Möllenkamp und Axel Wöstmann bei den Olympischen Spielen in Los Angeles den vierten Platz belegte.

Seine Zeit beim ORV ist Beispiel dafür, was Vereine leisten können; Ralf Holtmeyer ist der Inbegriff der Leistungsfähigkeit des Vereinsruderns unter geeigneten Rahmenbedingungen. Er hat bewiesen, dass in Deutschland (nur) die Vereine die olympischen Athleten hervorbringen können. Und dass herausragende Trainer in den Vereinen wachsen, und letztlich nur in den Vereinen wachsen können.

  Wie immer, begleitet der Trainer seine Mannschaft an Land auf dem Fahrrad. Foto: D. Seyb

Revolution kurz nach Ende der Karl-Adam-Ära

Bei der Erklärung des langanhaltenden Erfolges von Ralf Holtmeyer ist seine trainingstechnische Innovation Ende der siebziger Jahre, also nur kurze Zeit nach dem Ende der Ära von Karl Adam, wichtig. Ralf Holtmeyer wagte etwas damals Unerhörtes: Eine Art Konter-Revolution in der Trainingsmethodik, an die er schon als junger Mann mit viel Nachdenken ranging. Er wagte die Weiterentwicklung des Intervall-Trainings von Karl Adam, und suchte nach einer Balance zum super-extensiven Ausdauertraining der damals dominierenden DDR. Dieses war nach seiner Ansicht übertrieben, ineffizient und für Athleten im Westen ungeeignet, die gleichzeitig einer Berufsausbildung nachgehen mussten.

Er entwickelte das „Holtmeyer-Konzept“ – ein geschwindigkeitsorientiertes Ausdauertraining. Er formulierte die Erkenntnis, dass die Grundgeschwindigkeit, also die Geschwindigkeit beim Ausdauertraining, ein guter Maßstab für die erreichbare Renn-Geschwindigkeit ist, weshalb auch beim Ausdauertraining permanent Zwischenzeiten genommen werden. Das war innovativ: In der Zeit des Intervalltrainings von Karl Adam wurde auf das Tempo ausschließlich während der Vollbelastung geachtet; in den Pausen war das Tempo irrelevant. In der DDR wurde Ausdauer extensiv trainiert, aber die geruderten Zeiten spielten eine kleinere Rolle. Ruderer, die das DDR-Training erlebt hatten, wunderten sich über die vergleichsweise geringeren Trainingsumfänge bei Ralf Holtmeyer, aber auch über die deutlich höheren Geschwindigkeiten beim Ausdauertraining.

Aus dem Erkenntniszusammenhang zwischen Renn- und Ausdauertempo machte Ralf Holtmeyer die innovative Trainingsstrategie, das Tempo im Ausdauertraining zu optimieren, um damit das Wettkampftempo zu maximieren. Und noch einen Schritt weiter: Aus der Beobachtung, welche Änderungen das Ausdauertrainings-Tempo erhöhten, leitete er Vorgaben für die Rennbelastung ab.

Diesen Zusammenhang zwischen Ausdauer- und Renngeschwindigkeit formulierte Ralf Holtmeyer als Erster. Maßgeblich während des Ausdauertrainings entwickelte Ralf Holtmeyer sein Gespür für die indivuelle Dynamik, welche im Zusammenspiel zwischen der Mannschaft und dem Boot entsteht. Dabei war Ralf Holtmeyer bei der Verzahnung von Rudertechnik, Maximalkraft/Kraftausdauer und Ausdauertraining, also dem, was heute der weltweite Standard ist, der klare Vordenker. Der Maximierung der Geschwindigkeit hat sich in der Sicht von Ralf Holtmeyer alles andere anzupassen: Schlagfrequenzen und deren Wechsel, Schlaglänge und Schlagdynamik.

Er hat zudem die Fähigkeit, sich in die einzelnen Athleten und in die Mannschaft hineinzudenken. Oft hat man den Eindruck, als würde er im Geiste in der Mannschaft sitzen und mitrudern. Und zwar wechselnd, in allen Positionen im Boot. Und so stellten Begleiter im Motorboot oft fest, dass Ralf Holtmeyer nach vielen Trainingseinheiten genauso erschöpft aussah wie seine Trainingsleute. Das war etwas, was sie so von anderen Trainer-Kollegen nicht kannten, und was sie teilweise erschrocken hat.

Für manch Etablierte war Ralf Holtmeyer ein Problem

Das Konzept hat ihm nicht nur Freunde im Deutschen Ruderverband gemacht. Für manch Etablierte war Ralf Holtmeyer ein Problem. Nicht nur, weil er eine andere Trainingsmethodik hatte, sondern weil er damals gegen den Zentralitätsanspruch des „Ausschusses Leistungssport“ war und eine dortige Mitarbeit ablehnte. Seine Methoden waren wenig stromlinienförmig, und mit seiner kämpferischen jugendlichen Natur hatte er Probleme bei den älteren Autoritäten im DRV. Der junge und erfolgreiche Ralf Holtmeyer erfuhr damals entsprechend viele Widerstände, unter denen er gelitten hat.

Sein Leiden verstärkte sich, nachdem man ihm Mitte der achtziger Jahre den deutschen Nationalmannschafts-Achter anvertraute, dieser aber auf den Weltmeisterschaften 1986 und 1987 nicht reüssierte. Ralf Holtmeyer stand vor einem Phänomen, das ihn fast verzweifeln ließ: Er hatte nunmehr weitaus bessere Rudertalente, aber sie ruderten nicht so schnell wie seine Osnabrücker Ruderer. Und er spürte, wie Verantwortliche für den Deutschland-Achter unter ganz anderer Beobachtung der Öffentlichkeit stehen als Trainer aller anderen Bootsgattungen: immer unter Beschuss von Athleten, Vereinen, Funktionsträgern des Verbandes und der großen Öffentlichkeit.

Achtertrainer zu sein ist „eine andere Nummer“ – einmal verloren, schon wird die Trainerposition in Frage gestellt. Diese Zeit des Arbeitens gegen Widerstände, unter starker Beobachtung, unter permanenter Gefahr in Frage gestellt zu werden, das damit verbundene Leiden und die Fähigkeit damit umzugehen – das sind zentrale Erklärungspunkte des dekadenlangen Erfolges von Ralf Holtmeyer. Hier begann seine unvergleichliche Fähigkeit zum Durchhalten, zum Lernen und Weiterentwickeln – auch gegen Widerstände. Hier lernte Ralf Holtmeyer, Druck standzuhalten und sich ein „dickes Fell“ anzulegen.

Gold-Achter Seoul 1988: Holtmeyers erstes Gold mit dem Deutschland-Achter nach dem Scheitern bei der Weltmeisterschaft im Jahr davor. Foto: Imago

Weltweit neues Qualifikationssystem: Ausscheidung im Zweier ohne für den Achter

Nach 1987, wo sein Achter im WM-Finale abgeschlagen den sechsten Platz belegte, war für ihn eins klar: So konnte es nicht weitergehen. Zusammen mit Athleten entwickelte er eine weitere Innovation, das damals weltweit neuartige Qualifikationssystem für den Achter. Es wurde eine Mindestleistung auf dem Ruderergometer festgelegt, und von den Athleten, welche diese Leistung schafften, sollten prinzipiell die vier schnellsten Zweier den Achter bilden. Mit der Mindestleistung auf dem Ruderergometer wurde die erforderliche körperliche Leistungsfähigkeit sichergestellt; mit der Fähigkeit, einen schnellen Zweier ohne Steuermann – einer der wohl schwierigsten Bootsgattungen – zu fahren, wurden rhythmische und technische Fähigkeiten gewährleistet.

Das System hatte den Vorteil einer hohen Transparenz der Entscheidung, aber wie jedes System hat auch dieses seine Grenzen: Zum Beispiel konnten gute Ruderer benachteiligt werden, die keinen geeigneten Zweier-Partner fanden. Teilweise hat er das Zweier-System etwas flexibilisiert, und hat Intuition und Gefühl mehr Raum gegeben.

Das Zweier-System führte zu einer Neuerung, auch gegenüber seiner Osnabrücker Zeit: Das System erlaubte Neuzugänge, forderte aber auch, dass langjährige verdiente Mannschaftsmitglieder gegebenenfalls ausscheiden mussten, ohne Rücksicht auf ihr Ansehen oder frühere Leistungen. Diese Offenheit und Flexibilität bei Mannschafts-Besetzungen war ein damals eher ungewöhnliches Vorgehen, und zumindest für die damaligen DRV-Verhältnisse eine Innovation.

Holtmeyer denkt nicht in Ruder-Stilen

Gibt es auch einen Holtmeyer-Stil, so wie es etwa den Brietzke-Stil der extremen Auslage in der DDR gab? Nein, es gibt nicht „den“ offensichtlichen Holtmeyer-Stil, weil genau dieses, ein fester Stil, ein bewusstes Pressen in eine bestimmte Ruderbewegung einem anderen seiner Erfolgsgeheimnisse entgegenstehen würde. Er denkt nicht in Ruder-Stilen, sondern das Denken in zwei anderen Hauptkategorien ist Holtmeyer-Stil: Geschwindigkeit und Dynamik. Er denkt in Kräften und deren optimaler Entfaltung; „Stil“ oder „Schönheit“ sind für ihn das Ergebnis, aber weder Methode noch explizites Ziel. Eine bewusste unterordnende Gestaltung der Körperbewegungen könnte seinen Prinzipien von Dynamik und Geschwindigkeit entgegenstehen. Sein Ansatz ist eher intuitiv als biomechanisch geprägt; er kennt kein Stil-Paradigma.

Sein Leitbild ist das Boot, das den Wasserwiderstand optimal überwindet. Er hat dabei einen unvergleichbaren Spürsinn entwickelt, wie die Gesamtheit von Mannschaft und Boot zu optimieren ist und wie sich die Kräfte der Mannschaftsmitglieder besser entwickeln sollten, damit das Boot schneller wird. Die optimale Anpassung kann vom Bootsmaterial abhängen, welches sich wie erwähnt über die Dekaden geändert hat. Und natürlich hängt die richtige Dynamik auch von den Athletentypen ab. Der optimale Ruderstil der Mannschaft hinter Schlagmann Bahne Rabe von 1988 war ein anderer als der Mannschaft hinter Roland Baar von 1989-1996, und er war wieder ein anderer bei den Teams hinter beispielsweise Lenka Wech, Sebastian Schmidt, Kristof Wilke und Hannes Ocik.

Schlagleute als Führungspersönlichkeit

Von zentraler Rolle war für Ralf Holtmeyer wie bei anderen Trainern zum einen der/die Schlagmann/frau als Führungspersönlichkeit. Vielleicht anders als bei anderen Trainern spielten aber auch Steuermann/frau und Bugmann/frau eine besondere Rolle – sie können wie kein anderer die gesamte Mannschaft beobachten. Und den Bugleuten kommt für die ihm so wichtige Dynamik eine zentrale Rolle zu. Ralf Holtmeyer hält es für zentral, dass die vom Schlag vorgegebene Dynamik im Laufe des Achters nicht nachlässt. Er will sicherstellen, dass vom Bug „Feuer“ kommt. Auf die Ruderer auf diesen drei Bootspositionen hört Ralf Holtmeyer besonders. Er nutzt Steuerleute wie Manfred Klein, Peter Thiede, Annina Ruppel und Martin Sauer aber auch als sein Sprachrohr für Dinge, die er nicht selber aussprechen will.

Nur wenn die Dynamik stimmt ...

Dies heißt nicht, dass die anderen Positionen für ihn unwichtig sind; im Gegenteil: Er versetzt sich in jede einzelne Position hinein und versucht herauszufinden, wie der jeweilige Athlet mit der gesamten Mannschaft harmoniert. Nur wenn die Dynamik innerhalb der Mannschaft stimmt, kann für ihn die Dynamik der Ganzheit von Boot und Mannschaft stimmen.

Dieses Zusammenführen der Mannschaft – hier hat Ralf Holtmeyer eine unerreichte Meisterschaft entwickelt. Er weiß, wie sich „Team“ anfühlt, und er weiß, dass für eine optimale Dynamik eines Mannschaftsbootes zumindest nicht immer Harmonie die Voraussetzung ist. Er akzeptiert, dass für Spitzenleistungen manchmal Reibung und Stress auch innerhalb der Mannschaft notwendig sind. Er fördert solche Reibungen nicht, akzeptiert sie aber, solange sie die Mannschaftsdynamik insgesamt nicht gefährden. Im Spitzensport steht für ihn das Leistungsprinzip gegebenenfalls vor dem Ziel der Harmonie.

Nur scheinbar weicht Ralf Holtmeyer von diesem Leistungsprinzip manchmal ab, was von den Athleten manchmal als „Psychospiel“ interpretiert wird. So zum Beispiel in Situationen, wo überragende Athlen aus der Mannschaft genommen werden, weil sie in den Augen von Ralf Holtmeyer nur das Nötigste, aber nicht das Beste geben. Ralf Holtmeyer sieht in diesen Augenblicken den mittel- und langfristigen Zusammenhang; eine suboptimale Leistung eines überragenden Athleten würde mittelfristig die Motivation der „normalbegabten“ Athleten untergraben. Folgerichtig konnte Ralf Holtmeyer zur Verwunderung Außenstehender an erkrankten Athleten nach deren Gesundung auch gegen Widerstände festhalten.

Dieses „sich in die einzelnen Ruderer und in die Mannschaft hineinversetzen“ hat auch den erfahrenen Ralf Holtmeyer viel Zeit und Kraft gekostet, bis hin zur Sprachlosigkeit. Es passiert oft, dass er 10, 20, 30 Minuten schweigend im Motorboot mitfährt. Dieses „nichts sagen“ verstört manche Athleten anfangs – bis hin zur Frage „wozu brauchen wir so einen Trainer“?

Gold-Achter London 2012: Schlagmann Kristof Wilke feiert den Sieg mit der Geste des Sprint-Stars Usain Bolt. Foto: D. Seyb


Kommunikation: auch das nicht-gesprochene Wort gilt

Nur langsam bemerken manche Athleten, dass dieses scheinbare „Alleinlassen“ ein Teil der Trainingsphilosophie von Ralf Holtmeyer ist: Im Wettkampf ist die Mannschaft ebenfalls ohne Trainer und auf sich gestellt. Die wettkampfentscheidende Fähigkeit, „in sich hineinzuhören“ muss die Mannschaft im Training erlernen. Manche vergleichen seine Haltung mit der eines Dirigenten, der dem Orchester lange Zeit zum Einspielen gibt und erst eingreift, wenn er meint, dass die Mannschaft genug Zeit zur Selbstfindung hatte.

Nicht, dass Ralf Holtmeyer in diesen stummen Momenten der Motorbootbegleitung untätig ist, ganz im Gegenteil: Er betrachtet den Achter bei diesem „Nichts-sagen“ immer wieder aus wechselnden Perspektiven. Wie alle Trainer vom Heck, aber eben auch aus unterschiedlichen Positionen von Backbord und Steuerbord und gerne auch einmal von vorne, soweit das möglich ist. Immer wieder sitzt er dabei in der Mannschaft; in ihm arbeitet es in diesen Situationen, auch und gerade wenn er nichts sagt.

Damit ist der Punkt „Kommunikation“ anzusprechen, welcher im Zeitalter von Twitter und Facebook gerne auf das (schnelle) Wort reduziert wird. Ralf Holtmeyer hat einmal gesagt, dass viele über Kommunikation reden, aber nur wenige fragen, ob sie gut oder schlecht sei. Für ihn steckt Kommunikation überall drin, auch im „Nichts-sagen“ und gerade auch in der Gestik.

Wenn Ralf Holtmeyer etwas sagt, kann er mitnehmen und einbinden. Manchmal scheitern Menschen daran, dass sie aus dem, was Ralf Holtmeyer sagt, nur das herausnehmen, was sie hören wollen. Das kann zu Enttäuschungen und Missverständnissen führen: Man muss Ralf Holtmeyer bis zum letzten Satz, und gerade bis zum letzten Satz zuhören und man darf seine Kommunikation nicht nur auf das gesprochene Wort reduzieren. Bei Ralf Holtmeyer gilt das gesprochene Wort – das nicht-gesprochene Wort gilt aber auch. Man muss seine Kommunikation im Ganzen lesen können, und seine Beharrlichkeit auch in der Sprache ist für Manche schwierig. Ralf Holtmeyer mag kakophoniehafte, schnell geführte Diskussionen nicht – die Twitter- oder Facebook-Welt greift für ihn zu kurz.


Holtmeyer kann Nasenspitzen lesen

Weniger ist manchmal mehr – Ralf Holtmeyer entwickelte ein einzigartiges Gefühl, wenn es zuviel ist. Er kann Strömungen aufnehmen, Nasenspitzen lesen, Blicke interpretieren. Die Fähigkeit, ein Übersteuern und Übertreiben zu vermeiden, ist konstitutiv für seinen dauerhaften Erfolg. Er kennt die menschliche Problematik der Selbstüberschätzung und hat seinen Athleten immer wieder eingeimpft: „Die größten Fehler machen die Menschen in Phasen des Erfolges.“

Er weiß, dass Fehler und ihre Folgewirkungen oft schwer korrigierbare Eigendynamiken entwickeln: Einmal gescheiterten Athleten oder Trainern haftet schnell ein Makel an, dessen Reparatur aufwändig ist. Ralf Holtmeyer weiß genau, dass Fehler unvermeidlich sind, wenn man mehr erreichen und Neues versuchen möchte. Er sieht Fehler als menschlich und systemimmanent, erwartet aber für sich und seine Athleten, dass sie aus Fehlern lernen: „Gute Trainer machen immer neue Fehler, schlechte machen immer die gleichen.“

Bei dem Bestreben Fehler zu vermeiden, spielt der Ausbau der Leistungspotenziale für Ralf Holtmeyer eine zentrale Rolle: Er versucht Potenziale so stark auszubauen, dass es in der Situation der maximalen Belastung nicht nötig ist, 100 Prozent abzurufen, oder gar zu wissen, dass man über sich hinauswachsen muss, um erfolgreich zu bestehen. Ralf Holtmeyer betont immer wieder, dass die viele Athleten im entscheidenden Augenblick versagen, weil sie glauben, „105 Prozent“ leisten zu müssen und erklärt damit, dass bei Olympischen Spielen relativ selten Weltrekorde aufgestellt werden. Aus seiner Sicht werden diese eher aufgestellt, wenn überragende Athleten – beispielsweise bei Sportfesten, wo es nicht so sehr drauf ankomme – mit „95 Prozent“ antreten.

Ralf Holtmeyer hat durchaus Phasen, in denen der Erfolg nicht seinen Ansprüchen entspricht. Die Analyse macht er mit sich aus; er redet ungerne über solche „schlechten“ Zeiten. Er neigt weniger zur öffentlichen Retrospektive. Dies gilt in großen Zusammenhängen, aber auch im Boot: Er will, dass die Athleten nicht über den letzten Schlag nachdenken, sondern über den nächsten.


Holtmeyer kann Nasenspitzen lesen“, schreibt Wolfgang Maennig über die akribische Beobachtungsgabe des Trainers. Foto: D. Seyb

Magier im Achter, Zauberer an der Mannschaft

Die unvergleichliche, aber zum großen Teil unergründliche Fähigkeit von Ralf Holtmeyer, die Mannschafts- und Bootdynamik zu optimieren, macht ihn zum Magier am Achter, zum Zauberer an der Mannschaft. Und wie es bei Zauberern üblich ist: Für Außenstehende, aber selbst für Interne ist sein Erfolg oft nicht, oder zumindest nicht vollständig zu erklären.

Andere meinen, seine Geheimnisse zu verstehen – aber sie missverstehen ihn und den Zauberer vielleicht. Manche vermuten, dass Ralf Holtmeyer eigentlich „kein System“ habe, sondern aus dem Bauch heraus handele. Und tatsächlich ist hier insofern etwas dran, als dass für Ralf Holtmeyer Intuition wichtiger ist als starre Systeme und Strukturen.

Prinzipien, die allerdings im Zweifelsfall auch einmal hintenangestellt werden müssen, hat Ralf Holtmeyer durchaus: Das harte, gemeinsame Training ist für ihn zentral, nach dem Prinzip „coach them tough and hug them later“. Er verschwendet keine Zeit mit Übungen im Training, die im Wettkampf nichts bringen. Es treiben ihn die Gedanken, was die Athleten im Training bringen können, und wie dies gesteigert werden könnte. Wichtiger ist ihm noch die Frage, was zu tun ist, damit die Trainingsleistungen im Wettkampf ankommen.

Zauberer sind – weil man sie nicht durchschaut – nicht immer berechenbar; das ist Teil ihres Erfolgsgeheimnisses. Hierdurch entwickeln Zauberer eine Machtfülle, die Ralf Holtmeyer durchaus anwendet, auch auf das Risiko, mit seinen Vorstellungen nicht durchzukommen und gehen zu müssen. Für viele, die alles verstehen und mitgestalten wollen, ist dies schwierig; einen Ralf Holtmeyer muss man aushalten können.


Herausragende Erfolge auch im Frauen-Rudern

Ralf Holtmeyer steht als Synonym für den Deutschland-Achter der Männer, aber er hat in der Zeit von 2001 bis 2008 auch im Bereich des Frauenruderns herausragende Erfolge errungen. Nach zwei Bronzemedaillen bei den Weltmeisterschaften 2001 und 2002 errang er mit seinen Athletinnen den Achter-Weltmeister-Titel in 2003. Zwar gelang bei den Olympischen Spielen 2004 „nur“ der fünfte Rang, aber 2006 wurde erneut eine Silbermedaille errungen. Dies ist besonders erwähnenswert, weil das Frauenrudern in Deutschland noch immer keine angemessene Aufmerksamkeit genießt.

Ralf Holtmeyer hat gezeigt, dass – wenn die Kräfte im Deutschen Rudern stärker auf den Frauenbereich und insbesondere auf den Frauen-Achter gelenkt würden – auch hier überragende Erfolge möglich sind. Eine Laudatio ist nur bedingt der Ort für Wünsche und Strategien, aber: Eine Operation „Frauen- und Männer- Achter 2024: Gold für beide!!“ wäre etwas, was relevant wäre, wenn die Kräfte gebündelt würden, nach dem Vorbild beispielsweise des niederländischen Achters von 1996 und des neuseeländischen Achters 2021. Welch ein Schwung könnte für den deutschen Rudersport entstehen … ob man Ralf Holtmeyer für Unterstützung gewinnen könnte?


Ohne Unterstützung wäre es nicht gegangen

Apropos Unterstützung: Ralf Holtmeyer hat von anderen profitiert. Wohlwissend, dass die Benennung von Namen die Gefahr birgt, dass Nichtgenannte sich durchaus zu Recht unberechtigt zurückgesetzt fühlen, ist beispielsweise der viel zu früh verstorbene „Manni“ Beyer zu nennen, der ihm als Trainer von Junior- und U-23 Mannschaften ein großes Reservoir an Talenten für seine Achter zuführte. Günther Petersmann, Trainer des legendären Ruhr-Vierers, war ihm Ansporn und Gesprächspartner. Und Klaus Walkenhorst, Leiter des Dortmunder Stützpunktes, hielt ihm organisatorisch den Rücken frei. Bei der Trainingssteuerung hat er sich auf Professor Alois Mader und Professor Ulrich Hartmann verlassen können.

Ralf Holtmeyer hat den Rückhalt bei Dritten, gerne Kreativen aus anderen Disziplinen wie der Trainingspsychologie gesucht. Da, wo ein direkter Kontakt nicht möglich ist, liest er gerne, insbesondere Werke mit geschichtlichem Bezug. Besonders angetan hat es ihm Winston Churchill. Dieser hatte vorgelebt, im Sieg bescheiden zu sein, und mit Demut festzuhalten, dass er mit viel Mühe, aber auch mit Glück erreicht wurde. Winston Churchill hat ihn auch mit seinem Prinzip beeindruckt, in der Niederlage gelassen zu bleiben.


Holtmeyer hinterlässt einen „Impact“

Ralf Holtmeyer hat einen unvergleichbaren „Impact“ im deutschen Rudersport und darüber hinaus hinterlassen, und mit den überwältigenden Medaillenerfolgen maßgebliche Bausteine im Leben seiner Athleten bereitgestellt. Sein Einfluss auf seine Ruderer geht aber darüber hinaus, auch wenn Ralf Holtmeyer sich nicht als „Menschenführer“ sieht.

Es dürfte wohl so sein, dass jeder seiner Athleten andere Erfahrungen für das eigene Leben aus der Zusammenarbeit mit Ralf Holtmeyer zieht. Für viele bleibt die Erfolgsbotschaft, sich leidenschaftlich für die Sache einzusetzen, mit allem was man kann und weiß, und gegebenenfalls nicht zu zögern, seine Position aufs Spiel zu setzen. Dabei gilt es vordringlich, mit aller Leidenschaft das eigene Potenzial mittelfristig auszubauen. Hinter diesem Ziel steht die Maximierung der augenblicklichen Leistung zurück.

Überlegenes Potenzial schaffen, um es nicht regelmäßig ausbelasten zu müssen; in Reserven denken, Extreme möglichst nicht zu benötigen; das Gefühl zu entwickeln, wenn die Belastung zu groß ist und dann bewusst „rauszunehmen“; zu wissen, dass eigene Fehler unvermeidlich sind, aber die Fehlerkonsequenzen von Anfang an zu minimieren; das Beste erreichen zu wollen, aber nicht an das Perfekte zu glauben; sich bewusst auf Hindernisse, Widerstände, Ungerechtigkeiten, Unglücke vorzubereiten und sie als etwas zu begreifen, was nicht nur einem selbst, sondern allen anderen genauso passiert; solche Widrigkeiten sogar als Chance zu begreifen, wenn man sie besser übersteht als andere: Ein sicherlich unvollständiger Versuch, das nachhaltige Wirken von Ralf Holtmeyer auf seine Athleten zu beschreiben…

Tiefe Verneigung der Athleten

Der deutsche Sport, der internationale und der deutsche Rudersport, und die Athleten von Ralf Holtmeyer verneigen sich tief vor seinem unvergleichlichen, großartigen Lebenswerk. Ihm, seiner Ehefrau Kerstin (zweifache Olympiasiegerin und fünffache Weltmeisterin im Rudern) und ihren beiden Kindern ist ein weiterhin glücklicher Lebensweg zu wünschen, der die Bahnen des Sportes, insbesondere des Rudersportes, möglichst oft kreuzt.

 

Der Autor: Prof. Dr. Wolfgang Maennig, Ehrenvorsitzender des DRV, wurde 1988 unter Ralf Holtmeyer Olympiasieger im Deutschland-Achter. Für Hintergrundgespräche und kritische Anmerkungen zu früheren Versionen des Manuskriptes dankt er Lenka Dienstbach-Wech, Jürgen Hecht, Ralf Korge, Norbert Keßlau, Mark Mauerwerk, Martin Sauer, Eckhardt Schultz und Marc Weber.