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Unter Beschuss: Ukrainische Ruderin lässt Kinder für einen kleinen Moment den Krieg vergessen und bleibt vor Ort

Natalyia Mustafayeva möchte die Ukraine nicht verlassen. “Ich werde hier gebraucht”, schreibt sie via Whatsapp und bereitet das nächste Training vor: der Steg muss repariert werden, damit die Boote auf’s Wasser können. Seitdem Russland die Ukraine überfallen hat, kümmert sie sich noch intensiver um ihre Ruder-Kids. Es geht um Ablenkung vom grausamen Alltag mitten im Krieg.

Die Olympia-Teilnehmerin von London (2012 im Einer für Aserbaidschan) trifft sich in Novomoskovsk – das liegt im Süden der Ukraine, rund 300 Kilometer westlich von Mariupol – täglich mit bis zu 40 Kindern, deren Eltern in oder für die Armee arbeiten. In ihrer Region ist es zwar bis Anfang April nicht zu direkten Kampfhandlungen gekommen, aber spätestens wenn die Militärflugzeuge über der Stadt fliegen, sei die Angst so nahe. Die Kinder sind traumatisiert, für sie ist Sport die beste Medizin. Es geht einfach nur um Ablenkung von der furchtbaren Realität. “Die jungen Sportler laufen, rudern, bewegen kleine Hanteln, spielen, machen andere gemeinsame Dinge. Oder sprechen miteinander. Sie schreibt: “Für einen kleinen Moment können wir den Krieg vergessen.”

Olympia: Natalyia Mustafayeva startete 2012 in London im Einer für Aserbaidschan. Foto: Detlev Seyb

Den Verein in der Dnipropetrovsk-Region hat sie selbst aufgebaut, als sie nach den Olympischen Spielen in London in die Ukraine zurückgekehrt war. In den Jahren zuvor ist sie für die Nationalmannschaft Aserbaidschans gestartet und wurde von Rüdiger Hauffe trainiert. Der heute 65-Jährige hielt nach seiner Zeit dort weiterhin den Kontakt zu den Sportlern. Vor allen zu Natalyia Mustafayeva, die nach einiger Zeit eine Stelle als Sportlehrerein an einer Schule fand und ihren Verein in Novomoskovsk in den Berufsalltag einbaute. Rüdiger Hauffe unterstützte sie von der ersten Stunde an, organisierte Bootsspenden und weiteres Material in Deutschland.

Hilfe: Das Bootsmaterial kommt überwiegend aus Deutschland. Der Steg wird notdürftig hergerichtet. Foto: privat

“Es hat mich immer beeindruckt, wie sie ihre Ziele verfolgt und sich mit Herzblut einbringt", meint Rüdiger Hauffe. Schon damals wollte Natalyia Mustafayeva Kindern Halt geben in einer Stadt, die vom Krieg im Donbas nach der russischen Krim-Annexion 2014 geprägt wurde. Hier trafen sich Soldaten, die auf dem Weg in den Donbas waren oder von dort zurückkamen. "Es gab in der Stadt viel Unruhe, Kriminalität", so Hauffe: "Sie wollte die Kinder von der Straße fernhalten." Nahezu alle Boote im Verein stammen aus Deutschland und der Initiative von Hauffe, der nach Trainer-Stationen in Magdeburg, Wanne-Eickel und Frankfurt Nationaltrainer im Iran und Aserbaidschan wurde, ehe er über den OSP Halle zum Landesruderverband nach Sachsen ging. Zuletzt hatte er sich mit Natalyia im September 2021 in Polen zur U23-EM getroffen – zu einer der vielen Bootsspendenübergaben. Dreimal war sie deswegen selbst nach Deutschland gereist.

Seit dem Kriegsausbruch hat Rüdiger Hauffe noch intensiveren Kontakt zu seinen früheren Sportlern. Anfang März meldete sich Natalyia Natoka (heute Teteritsch) bei ihm und bat um Hilfe. Sofort machte er sich auf den Weg zur polnisch-ukraininischen Grenze und holte sie dort mit ihren Kindern Julia (7) und Ilyia (9) ab. "Für sie war es ein langer Weg von Kiew zur Grenze, wo sie noch einmal einen Tag warten musste", erklärt der pensionierte Coach, der sofort Kontakt mit den Behörden aufnahm und vermittelte. Lars und Michaela Krisch haben die kleine Familie bei sich aufgenommen und ihnen in allen Angelegenheiten zur Seite gestanden. Mittlerweile arbeitet Natoka als Sportlehrererin an einer Schule in Dresden und kümmert sich um Flüchtlingskinder aus der Ukraine. Beim DRV-Langstreckentest in Leipzig hatte Rüdiger Hauffe auf die Situation der ukrainischen Sportler aufmerksam gemacht und für Geld- und Sachspenden geworben. Natoka bezog mit ihren Kindern auch schon eine eigene Wohnung in Dresden.

Ablenkung: Hier vergessen die Kinder beim Rudern jeden Tag für einen kleinen Moment den Krieg.

Natalyia Mustafayeva und ihre Tochter Oksana wollen nicht nach Deutschland fliehen. "Die Kindergärten sind geschlossen. Die Schulen auch. Es gibt noch online Unterricht", schreibt sie und solange sie helfen kann, möchte sie auch helfen. Den Optimismus hat sie nicht verloren: "Wir möchten wieder so leben wie wir vorher gelebt haben. Ich hoffe, dass dieser sinnlose Krieg so schnell wie möglich endet." Mitten in ihrem Optimismus wird sie wieder von der Realität eingeholt. "Die Sirenen heulen, es ist Fliegeralarm. Ich muss in den Luftschutzbunker und melde mich morgen wieder."

Durch die Nähe zur Millionenstadt Dnipropetrowsk kommt es jetzt auch in  Novomoskovsk immer öfter zu Einschlägen. Das Training musste vorübergehend eingestellt werden. Doch Natalyia Mustafayeva hofft, dass sie schon bald irgendetwas wieder mit den Kindern machen kann, damit sie wieder Ablenkung finden.  Detlev Seyb

 

Wer helfen möchte, kann direkt mit Rüdiger Hauffe Kontakt aufnehmen: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Hilfe ist auch über das Spendenkonto des DRV tun (IBAN: DE06 2505 0180 0000 1238 62, SWIFT-BIC: SPKHDE2HXXX, Verwendungszweck "Spende Urkaine"). Der Verband leitet die Spenden entsprechend weiter.

 

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