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Gans oder Erbsensuppe

Eine Rezeptur für ein Ruderfest der fröhlichsten Art – zum Nachmachen empfohlen: die Martinsgans-Regatta des Ruderclub Favorite Hammonia.

 Man nehme:

Gänsebraten für neun kräftige Männer, also eine Achterbesatzung plus Steuermann.

Erbsensuppe, um damit alle weiteren Achter-Crews satt zu bekommen.

Besetze so viele Boote mit Ruderern, wie sich angemeldet haben.

Wähle diese Ruderer von jung bis alt, von etwas kleiner bis groß, von weniger gut bis weltmeisterlich.

Besetze die Boote nach dem Generationenprinzip und in bester Absicht, sie gleich stark zu halten.

Lege eine Rennstrecke von rund 2.000 m fest.

Starte die Boote im Abstand von 15 Sekunden.

Und lege die ganze Rezeptur in die Hand eines begabten, phantasievollen, unermüdlichen und zu allem entschlossenen Zeremonienmeisters.

Dann hat man die wichtigsten Zutaten für ein sportlich-fröhliches, ess- und trinkfreudiges Ereignis zusammen, auf das sich alle Beteiligten ein Jahr freuen und das Leute zum gemeinsamen Rennrudern bringt, die sonst nie miteinander in einem Boot sitzen würden.

Wo es das gibt? Bislang nur beim Ruder-Club Favorite Hammonia in Hamburg. Da firmiert dieser Tag unter dem Titel: „Das Rennen um die Martinsgans“. 2021 lief bei trübem, kühlen Hamburger „Schmuddelwetter“ Mitte November bereits die 15. Wiederholung.

Der Zeremonienmeister, zugleich Erfinder dieses Events, heißt Gert-Rüdiger Wüstney, lange Jahre Geschäftsführer einer Grundstücks-, Haus- und Vermögensgesellschaft. Aber alle nennen den 76-Jährigen nur „Spiddel“, Norddeutsche ahnen, dass dies auf seine ehemals schlanke, eben spiddelige Figur zurückgeht, die ihn auszeichnete, als er 1966 im Ruder-Mekka Ratzeburg bei den Eichkranzrennen im Leichtgewichtsachter startete. Aber der Reihe nach. Irgendwann im Jahr 2007 tüftelte Spiddel mit seinem Clubfreund Joachim Beyer an einer Idee herum: Der ganze Club sollte gemeinsam rudern, sich so besser kennenlernen und gegenseitig respektvoll achten. Klar war, dass dabei ein Rennen im Mittelpunkt stehen sollte, und natürlich musste auch ein Preis her.

Aber wie kann es gelingen, Jung-Ruderer mit verdienten Senioren in ein Boot zu setzen? Ruderer, die sich schon olympisches Edelmetall verdient haben, und solche, die noch auf ihre ersten „Raddadelchen“ warten? Bei der Premiere gelang es Spiddel, drei renommierte Elite-Ruderer auf die Schlagplätze zu kriegen: Dirk Balster, Frank Richter, beide holten u. a. Olympiabronze im Deutschland-Achter 1992, und Masters-Weltmeister Wolfgang Rauhut. Mit solchen Männern in einem Boot zu sitzen und ein Rennen zu bestreiten, das sollte doch Ansporn für viele sein mitzumachen.

Damit nun kein Boot auf dem exakt 2.135 Meter langen Kurs auf der Außenalster mit zehn Längen vor den anderen liegt, lautete die Aufgabe: Wie schafft man es, dass die Boote möglichst ähnlich schnell sind? „Mit Erfahrung und Fingerspitzengefühl“, schmunzelt Spiddel, „ich kenne ja fast alle Mitglieder“, Spiddel allein setzt die Teams zusammen, diesen Job ließ er sich in den letzten 14 Jahren nicht nehmen.

Zeremonienmeister "Spiddel" Wüstney, Erfinder u. Organisator der Regatta. Foto: v.Schönberg

Und wie finden die Achter-Teams zueinander? Hier setzt nun Spiddels grenzenlose Phantasie ein, die aus einem Clubrennen ein unvergessliches Ereignis macht: Schritt 1: Sammeln aller Teilnehmer am Renntag auf dem Clubsteg morgens um 10 Uhr unter der Fahne mit der Gans. Dresscode: Clubjacket, dunkle Hose mit Bügelfalte, weißes Hemd, schwarze Socken, Clubschlips rot-weiß, weißes Taschentuch…nicht aus Papier – Spiddel kontrolliert. Gemeinsames Foto, Vorzeigen der hölzernen Siegergans.

Dann erst erfolgt die Mannschaftseinteilung. Spiddel ruft die Teams auf. Zuerst eine gestandene Größe im Mindestalter von 65 Jahren. Er wird zum Kapitän ernannt und ist Steuermann. Dann werden acht Ruderer aufgerufen. Sobald ein Team komplett ist, geht es ab in die Umkleide. Reicht die Anzahl der Club-Boote nicht, werden sie als Leihgabe von den Clubs nebenan –  Germania und Allemannia – geholt.

Für die Achter-Teams geht es nun darum, die Sitzreihenfolge optimal zu bestimmen: Wer geht auf Schlag, wer auf Bug, wer ist Backborder oder Steuerborder? 2021 war auch Frank Richter wieder dabei und ein ganz starker Mann aus dem Deutschland-Achter: Torben Johannesen, der Silbermedaillengewinner von Tokio. Torbens Bruder Erik, der Olympiasieger von London 2012, hatte kurzfristig absagen müssen. Aber neun Achter konnten besetzt werden. Der älteste Teilnehmer war Horst Poscharsky, 82, der jüngste Junioren-EM-Teilnehmer Hanno Wetjen, 17.

Dann geht´s los Richtung Krugkoppelbrücke. Es bleiben also zwei Kilometer zum Einfahren. Welches Tempo gehen wir, was kann der Schlagmann seinen Leuten zutrauen? Da müssen schnell Entscheidungen her: nicht überpacen und am Ende eingehen, aber eben auch nicht zu vorsichtig ins Rennen gehen. Die Stimmung an Bord ist ebenso locker wie angespannt. Es wird viel gescherzt, aber Rennen ist Rennen. Wenn´s losgeht, wird reingehauen, solange, bis die Zielflagge vor dem Bootshaus der Fari erreicht ist.

Torben Johannesen: „Schon wieder nur Silber“

Erneut sammeln sich alle auf dem Bootssteg. Keiner weiß, wer gewonnen hat. Aber es gibt gezapftes Bier und Gänse-

schmalz. Spiddel verkündet das Ergebnis, verleiht die Ananas an den Vierten, ruft den Sieger aus, dem alle zuklatschen. Torben Johannesen, der auf sechs gesessen hat, wird mit seinem Boot Zweiter und stöhnt in Erinnerung an Tokio: „Schon wieder nur Silber.“

Und der alte Herr Poscharsky? Wird Dritter im Achter, in dem auch Frank Richter sitzt, der junge Hanno Wetjen knapp dahinter Fünfter. Sein Vater Holger sitzt im Siegerboot, und dessen Steuermann drückt Spiddel jetzt die hölzerne Ente als Trophäe in die Hand, die er ein Jahr lang Zuhause zu pflegen hat.

Doch das ist jetzt alles schon zweitrangig. Ein paar Reden werden noch geschwungen, vor der Ausgabe für die Erbsensuppe bildet sich eine Schlange. Nur die Sieger erfahren Sonderbehandlung. Sie erhalten die goldene Gänsenadel, dürfen duschen, sich wieder den Clubzwirn anziehen und an einem runden, fein gedeckten Tisch Platz nehmen, sich von Kellnern bedienen lassen, Rotwein trinken (Etikett: Gänsewein mit Gans-Aufdruck) und die Gans verputzen.

Denn das sind die Regeln: Gans für die Sieger, Erbensuppe für den Rest. Die Verlierer sitzen an Klapptischen, selbstverständlich in den Klamotten, in denen sie auch das Rennen bestritten haben, und löffeln ihre Suppe – in Wahrheit natürlich kein wirklicher Verlust. Zusammen lassen es sich alle gut gehen. Sie reden über das Rennen, den Club, die spleenigen Rituale, denen sie sich gern unterzogen haben. Sie lernen sich kennen, genießen die gemeinsame Runde. Und Spiddel strahlt: Ist doch wieder mal alles gelungen. Das Ganze war ein großer Spaß – vielleicht demnächst auch anderswo in Deutschland? Spiddel würde mit Rat und Tat und seinen kuriosen Ideen zur Seite stehen.

Harm Clüver

 

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