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Aktuelles zum Thema Rudersport.

Sind wir noch eine Rudernation?

Die Medaillenausbeute von Tokio war enttäuschend, so die offizielle Lesart im Deutschen Ruderverband. Bei nur zwei Silbermedaillen stellt sich die Frage, ob Deutschland den internationalen Anschluss verliert? Das Land gehört traditionell zu den großen Rudernationen, doch dieses Ansehen droht, verloren zu gehen.

Sofia 1981 – das Rennen der Junioren-Achter auf dem Pancharevo See ist gerade vorüber und die Boote defilierten entsprechend ihrer Platzierung an der Tribüne vorbei. Ganz vorn der DDR-Achter, dahinter die UdSSR, dann der westdeutsche Achter. Mit diesem letzten Rennen der Junioren-WM hat die DDR in sämtlichen acht Bootsklassen Gold gewonnen, die Bundesrepublik kommt auf vier Medaillen. Da hallt aus dem ostdeutschen Boot der Ruf: „Wir Deutschen sind die besten Ruderer der Welt.“ Kaum jemand erinnert diese damals ungeheuerliche Szene, die für den Ruderer nicht folgenlos blieb. Sie drückt aus, was damals für alle erkennbar war: die beiden deutschen Staaten bildeten – jeder auf eigene Weise und mit eigener Geschichte – eine Rudermacht.

Rudern hat in Deutschland Tradition. Britische Offizierskorps brachten es um 1830 nach Hamburg. Noch vor der Gründung des Deutschen Ruderverbandes 1883 hatten sich bereits zahlreiche Rudervereine in ganz Deutschland gegründet, die das Fundament bildeten für eine Tradition, die diesen Sport vor und nach den Kriegszeiten zu gesellschaftlichem Ansehen und zur olympischen Kernsportart formten.

1900 gewann Deutschland erstmals Gold. Die DDR gewann zwischen 1968 und 1988 bei fünf Olympischen Spielen 33 Goldmedaillen im Rudern. In der Bundesrepublik sorgten vor allem Karl Adam und seine legendären olympischen Achtersiege von Rom 1960 und Mexico City 1968 für eine Rudereuphorie in der Zeit des Wirtschaftswunders.

Aber gilt das noch heute? Ist Deutschland noch eine Rudernation? Bei nur zwei olympischen Medaillen? Die Frage lässt sich sicher nicht allein an der Medaillenzahl koppeln. Es gab und gibt immer wieder Zeiten – siehe Tabelle – in denen Deutschland schlecht abschnitt bei Olympischen Spielen. Peking mit nur ebenfalls zwei Medaillen liegt noch nicht allzu lange zurück. Ist uns der Erfolg vielleicht nur zwischenzeitlich abhandengekommen? Oder ebnet sich der Rudersport national und international allmählich ein? Wird Rudern ein Freizeitsport, der sich von der internationalen Karte des Leistungsvergleichs zu verabschieden begonnen hat? Um eine Antwort zu finden, sollen verschiedene Faktoren, die eine Rudernation formen, näher beleuchtet werden:

 

1. Erfolg – der Kuchen wird kleiner

Seit den 90er Jahren gab es zwar immer wieder Hochs und Tiefs, aber bei Olympischen Spielen waren – Ausnahme Peking 2008 – stets zwei Goldmedaillen drin, vor allem aber zog der DRV in voller Sollstärke, das heißt in 14 Bootsklassen, ins olympische Dorf. In Rio 2016 waren es erstmalig nur zehn, für Tokio qualifizierten sich gar nur sieben Boote.

Diese Zahlen muss man ein wenig relativieren. Der Modus der Qualifikationsregatten wurde geändert: Mehr teilnehmende Nationen bei den kontinentalen Ausscheidungen für Olympia, bei gleichzeitig weniger Startplätzen in den Mannschaftsbootsklassen, um die Zahl der Olympioniken insgesamt zu verringern. Gleichzeitig verfolgt das Internationale Olympische Komitee (IOC) das Ziel, Rudern weiter zu internationalisieren, damit mehr als die klassischen Rudernationen bei Olympischen Spielen an den Start gehen können. Der Rudersport kann seinen hohen Anteil von 42 Medaillen am olympischen Medaillenkuchen nur halten, wenn es der FISA gelingt, den Anteil rudernder Nationen insgesamt zu steigern. Andersherum ausgedrückt: Immer mehr Länder kämpfen um die Medaillen. Die insgesamt 14 Goldmedaillen im Rudern wurden in Tokio von elf verschiedenen Nationen gewonnen. Nur Neuseeland und Australien gewannen mehr als eine Goldmedaille.

Den Erfolg müssen sich immer mehr Länder teilen, die Tortenstücke werden kleiner, nicht nur für Deutschland. Dennoch schaffen es andere, kleinere Länder wie etwa die Niederlande, Topleistungen abzuliefern. In Deutschland sind zurzeit lediglich der Skullbereich der Frauen und der Achter der Männer konkurrenzfähig. Der übrige Riemenbereich Männer und Frauen und der Skullbereich der Männer – mit Ausnahme des Einers – kämpft momentan um den Anschluss. Dem Leichtgewichtsrudern, in Deutschland traditionell stark verankert, wurde aufgrund der Corona-Krise eine „Gnadenfrist“ für die kommende Olympiade eingeräumt, nach 2024 droht es schrittweise zu verkümmern.

Fazit: Die internationale Konkurrenz wird größer, mehr Länder kämpfen um Medaillen.

 

2. Basis – mehr ist manchmal weniger

Bis zur Corona-Krise stiegen die Mitgliedszahlen im Deutschen Ruderverband kontinuierlich an. Von 39.000 im Jahre 1949 auf 69.000 im Jahre 1980 und 86.000 im Jahre 2019. Seit 2020 sinken sie, aber nur moderat, andere Sportarten verzeichnen stärkere Verluste – Ruderer sind treu – auch in Pandemiezeiten.

Doch ein genauerer Blick auf die Zahlen verdeutlicht eine ungute Verschiebung: Den größten Zuwachs an Mitgliedern tragen nicht Jungen und Mädchen, die zum Rudern kommen, um Leistungssport zu treiben. Ihr Anteil sinkt seit 1969 von 21,3 Prozent der Vereinsmitglieder auf 17,1 Prozent. Dieser Trend ist bei den Jungen noch deutlich stärker als bei den Mädchen. Warum? Weil der Rudersport generell weiblicher wird. Der Anteil an Frauen ist zwischen 1969 und 2019 von 15,5 Prozent auf 35,0 Prozent gestiegen. Doch es sind nicht allein die Frauen, die den Rudersport zahlenmäßig stärken, es sind in erster Linie die Älteren, also Neueintritte jenseits des 40. Lebensjahres, die die Defizite in den jungen Jahrgängen mehr als ausgleichen.

Diese Zielgruppe der neueingetretenen 41- bis 60-jährigen Vereinsmitglieder hat mit Leistungssport aber wenig im Sinn, sondern sieht im Rudern einen naturnahen Freizeit- und Gesundheitssport. Ein legitimes Motiv und ein Potenzial, das die Vereine bislang nur wenig bedienen. Den Vereinen gelingt es immer weniger, Ruderer und Ruderinnen vom Gigboot ins Rennboot zu bewegen, und auch nicht vom Skullrudern zum Riemenrudern. „Selbst Masterruderer trainieren selten mehr als zweimal in der Woche im Mannschaftsboot“, hat der ehemalige Weltmeister und Masterruderer Michael Buchheit festgestellt. Die Basis des Leistungsruderns dagegen, die Jugend, bröckelt ab.

Und es bröckelt noch etwas: Die freiwillige, ehrenamtliche Mitarbeit in den Ruderclubs verliert an Anerkennung, die Bindung in den Vereinen geht verloren. Es wird immer schwieriger, Mitglieder für das Ehrenamt zu gewinnen. Vielen fehlt die Zeit, aber es mangelt auch an Motivation: Zu oft wird die Vorstandsarbeit mit einer Rundumversorgung verwechselt, auf die Mitglieder einen Anspruch haben. Folge: Frust bei den Ehrenamtlern und abnehmende Bereitschaft, überhaupt ein Amt zu übernehmen. Verein war früher Heimat, heute entwickelt er sich zum Dienstleistungsbetrieb, den einige gewählte Mitglieder kostenlos organisieren sollen.

In den Schulen, dem großen Reservoir des Sports, wird ebenfalls gerudert. Die Zahl der Jungen und Mädchen im Schulrudern liegt bei ca 15.000. Aber die Schulen sehen sich nicht als Ausleseinstanz für den Leistungssport, sondern verfolgen eigene, pädagogische Ziele. Ruderjugend-Vorstand Achim Eckmann beschreibt dies so: „Die Schulleitungen und Sportlehrer betrachten Rudern als Lernfeld für einen fairen Umgang miteinander, als Sport für Gesundheit und Fitness und als Motivator für ein gutes Schulklima.“ Schulrudern soll den Gemeinschaftssinn pflegen – nicht den Vereinen neue Mitglieder zuführen. Kooperationen zwischen Schule und Verein sind oft zufällig und unsystematisch und bauen eher auf Eigeninitiative auf. Gute Ruderer und Ruderinnen wechseln in die Vereine – oder eben auch nicht. Denn Rudern konkurriert nicht nur mit anderen Sportarten, sondern auch anderen Freizeitaktivitäten.

Die Jugendarbeit in den Vereinen ist insgesamt rückläufig. Auf höchstens fünf Prozent der Vereine schätzt der ehemalige Leitende Bundestrainer Ralf Holtmeyer die Zahl der Clubs, die sich intensiv der Jugendförderung verschrieben haben. Um die Entwicklung umzudrehen, fordert er ein von Sponsoren unterstütztes Belohnungssystem für Vereine mit guter Jugendarbeit.

Fazit: Das Potenzial an Nachwuchsruderern wird immer kleiner.

 

3. Trainer – eine aussterbende Spezies

Haben wir die richtigen Trainer? Diese Frage bestimmt unmittelbar nach den Spielen von Tokio die Diskussion. Die Kritik: Zu viele Trainer sitzen fest und sicher auf ihrer Stelle, obwohl sie seit Jahren keine internationalen Erfolge vorweisen können. Diese Rechnung ist etwas vordergründig. Wie schwer es manchmal ist, Erfolge aufzubauen, zeigt das Beispiel Frauen-Riemenrudern: Der Australier Tom Morris wurde 2019 damit betraut, das Riementeam der Frauen mittelfristig neu aufzubauen. Bei der EM 2020 in Poznan zeigte der Achter mit einem zweiten Platz, dass er international Anschluss findet. Doch als es dieses Jahr bei der Nachqualifikation in Luzern um olympische Plätze ging, war es mit der Geduld vorbei: Der Achter wurde kurzfristig mit zwei Skullerinnen „verstärkt“. Gebracht hat es nichts, nur der Aufbauprozess wurde gestört und die Riemenruderinnen um ihre Motivation gebracht.

Es geht also nicht allein um die Trainer, sondern auch um Trainingskonzeption und um die Traineraus- und -fortbildung. Achtersteuermann Martin Sauer erklärte jüngst gegenüber rudersport: „Die heutige Ruderergeneration ist selbstständiger und selbstbewusster geworden und verlangt den Trainern deutlich mehr ab. Vielen Trainern fällt dies nicht so leicht. Heute muss man viel häufiger mit den Athleten diskutieren über den richtigen Weg.“

Ob gute Trainer aus dem Ausland kommen müssen, ist eine offene Frage. Richtig ist, dass man aufs Ausland schauen sollte, um zu erkennen, was dort besser läuft. Das größere Problem: Es gibt nicht genügend Trainer. Bei einer Bezahlung um 3.000 Euro, Wochenendarbeit, geringem Budget, im Verein oft einziger Hauptamtler, beinhaltet der Trainerberuf zahlreiche Unsicherheiten. Gut ausgebildete Sportwissenschaftler entscheiden sich da eher für eine Universitäts- oder Forschungsstelle. Die Idee, künftig Trainer stärker nach dem Leistungsprinzip zu bezahlen und Verträge nach ausbleibendem Erfolg nicht zu verlängern, mag seine Logik haben. Aber wenn es nicht genügend Trainer gibt, um diese neuen Stellen überhaupt besetzen zu können, führt dieser Ansatz schnell ins Abseits. Höhere Gehälter kann der DRV nicht zahlen. Das Besserstellungsverbot des Bundes, Hauptgeldgeber des Ruderverbandes, erlaubt es nicht, DRV-Angestellte besser zu stellen als Angestellte des Bundes.

Fazit: Gute Trainer sind Mangelware.

 

4. Zentralisierung – Systemfrage mit Sprengkraft

Zentralisierung oder Dezentralisierung des Leistungssports? Seit Dekaden wird hier gesteuert und gegengesteuert. War man bis 2008 auf Zentralisierungskurs, wurde das Ruder nach dem Misserfolg von Peking Richtung Dezentralisierung herumgerissen. 2016 erfolgte der erneute Turnaround. Die Auswirkungen zeigen sich nicht kurzfristig. Tokio 2020 ist weniger das Ergebnis der Zentralisierung von 2016, sondern das der Dezentralisierung nach 2008, behauptet jedenfalls Ralf Holtmeyer. Viele Vereine, die sich in den vergangenen Jahren von der Leistungssportreform benachteiligt sehen, argumentieren umgekehrt. Doch es ist einleuchtend, dass ein Systemwechsel acht bis zehn Jahre braucht, bis er von den Junioren bis hoch zum A-Kader wirkt – im Positiven wie im Negativen.

Deutschland verfügt traditionell über erfolgreiche Juniorenjahrgänge, die bei Weltmeisterschaften glänzen. Der Übergang zum Erwachsenenrudern ist die kritische Nahtstelle, die Zeit, in der berufliche und persönliche Entscheidungen getroffen werden. Die aktuelle Prognose für Paris 2024 ist heikel, die U23-Erfolge setzen erst allmählich ein, momentan scheint das Nachwuchsreservoir eher zu klein zu sein, um die Rücktritte nach Tokio adäquat oder sogar besser zu ersetzen. Jetzt das Steuer nach den Enttäuschungen von Tokio erneut herumzureißen, wäre auf jeden Fall verfrüht, die Auswirkungen der aktuellen Leistungssportkonzeption werden erst zu den Spielen 2028 in Los Angelos voll zu erkennen sein. Das aktuelle Konzept zur Konzentration soll erst zum Jahresbeginn 2022 vollständig umgesetzt sein, konsequent verwirklicht ist es bislang insbesondere bei den Kleinbooten ohnehin nicht. Die Silbermedaillengewinner von Tokio, Jason Osborne und Jonathan Rommelmann, trainierten für sich und getrennt: der eine in Krefeld, der andere in Mainz. Einerruderer Oliver Zeidler dagegen ist ein „Zufallstreffer“ – ein Ruderer, der aus dem Nichts kam und der erst vor fünf Jahren vom Schwimmen auf Rudern umgesattelt ist – eine tolle Personalstory, aber kein Ausbund systematischer Förderungsstruktur.

Fazit: Entwicklung braucht Zeit und Geduld.

 

5. Das Fördersystem – Unterstützung mit Unsicherheiten

Wir brauchen mehr Geld. Diese Forderung ist in aller Munde – aber sie ist unrealistisch, vielleicht ist sie sogar falsch. Für die finanzielle Ausstattung des Leistungssports ist das Bundesinnenministerium verantwortlich. Die Höhe der Zahlungen richtet sich nach den Erfolgsaussichten. Dort, wo Medaillen zu erwarten sind, soll die Förderung am größten sein. Mit zwei Silbermedaillen aus Tokio wird die künftige Förderung sicherlich nicht höher ausfallen als die nach Rio 2016, wo zwei Gold- und eine Silbermedaille gewonnen wurden. Das Geld wird eingesetzt für Trainer, Trainingslager, Regattateilnahmen und die vier Bundesleistungszentren für den A-Kader in Berlin (Frauen Skull), Potsdam (Frauen Riemen), Hamburg (Männer Skull) und Dortmund (Männer Riemen).

Die Sportler selbst sind oft bei Bundespolizei oder Bundeswehr angestellt, weitgehend vom Dienst freigestellt und erhalten je nach Kaderzugehörigkeit eine finanzielle Unterstützung von der Deutschen Sporthilfe. Ein Sponsorensystem gibt es mit dem Bootshersteller Empacher und für Dortmund mit dem Pumpenhersteller Wilo. Unterhalb des A-Kaders sind für den U15 – U23-Bereich die Landesverbände der Bundesländer zuständig. Dieses System ist weit davon entfernt, professionelles Rudern zu ermöglichen, wie es etwa Großbritannien oder Neuseeland anstreben. Das aktuelle Fördersystem beinhaltet viele Unwägbarkeiten. „Immer weniger Jungen und Mädchen wollen sich heute dem Leistungssport verschreiben“, erklärt der ehemalige Bundestrainer Dieter Grahn, 2000 bis 2008 Trainer des Deutschland-Achters, „weil er keine sicheren Aussichten bieten kann. Da wägen die jungen Leute ab und entscheiden sich viel zu oft dagegen.“

In den Leistungszentren bestehen zwar Absprachen und im besten Fall Kooperation mit den örtlichen Universitäten und Ausbildungsstätten, doch verbindliche Zusagen und eine Berufsperspektive sind in der Regel damit nicht verbunden. Wenn, wie im vergangenen Jahr durch die Verschiebung der Olympischen Spiele, ein Jahr Leistungssport drangehängt werden muss, geraten private und berufliche Pläne schnell in Schieflage. Die Beratung für den beruflichen Übergang nach der Ruderkarriere wird in allen Leistungszentren zwar angeboten, doch die finanzielle Unterstützung endet im Jahr danach. In den Niederlanden dagegen läuft die finanzielle Unterstützung nach dem Ende der Ruderkarriere eine Zeitlang fort, um den Übergang besser abzufedern.

Finanzielle Unterstützung und berufliche Planbarkeit nach der Sportkarriere sind zwei wesentliche Erfolgsfaktoren. Doch sie allein bewirken nur wenig. Eigene Begeisterung für den Sport, die Bereitschaft, sich ihm für einige Jahre bereitwillig hinzugeben und dafür in anderen Bereichen Einschränkungen hinzunehmen, kurz: Motivation und Leistungsbereitschaft sind weitere Faktoren, die Ruderer entwickeln müssen, wenn sie sich für eine Sportkarriere entscheiden.

Die Vorgabe der Leistungssportkonzeption, 18 Monate vor olympischen Wettkämpfen am Standort der Leistungszentren zu wohnen, macht sportlich gesehen Sinn: Um international mithalten zu können, müssen die besten Ruderer und Ruderinnen gemeinsam trainieren. Denn gute Ruderer werden nur besser, wenn sie mit anderen guten Ruderern trainieren. Und es braucht einen Pool an Top-Ruderern, um die Boote, selbst einen Zweier, optimal besetzen zu können. Das sind Binsenweisheiten – und doch sind sie nur schwer durchsetzbar. Denn unter beruflichen und sozialen Aspekten ist die Konzentration nicht zwingend leistungsfördernd. Nicht immer passt der Studiengang, nicht immer lassen sich soziale Bindungen einfach verpflanzen, nicht immer ist zu verstehen, warum Athleten quer durch die Republik umziehen müssen, wenn sie vor Ort vergleichbare Bedingungen finden.

Oliver Zeidler etwa trainiert statt wie vorgesehen in Hamburg lieber in München unter Obhut seines Vaters und Trainers Heino Zeidler. Sogar das gemeinsame Trainingslager in Japan unmittelbar vor den Olympischen Spielen in Kinosaki haben die Zeidlers für sich gestrichen. Solange der Erfolg da ist, hat es jeder schwer, hier Gemeinsamkeit einzufordern. Ein Problem für den Verband, zeigt es doch, wie brüchig die Konzeption ist, dass Sportler sich darüber hinwegsetzen und eine ungute Signalwirkung auf diejenigen aussenden, die bereit sind, sich innerhalb des Systems und seinen Auflagen zu bewegen.

Es bringt allerdings nichts, diese „Systemabweichler“ zu brandmarken. Letztlich geht es nicht um Durchsetzung eines Systems, sondern um Erfolg. Ausnahmen im Kleinboot-Bereich, aber auch Quereinstiege sollten möglich sein –  ähnlich der „Walk-on“-Praxis in den USA, die Quereinstiege und Wechsel zwischen den Sportarten systematisch fördert.

Fazit: Geld ist nicht alles, Begeisterung und Motivation gehören ebenfalls dazu.

 

6. Nahtstelle Verband/Vereine – mangelndes Miteinander

An dieser Stelle kommen die Vereine ins Spiel, die sich oft schwertun, ihre besten Ruderer und Ruderinnen an die Leistungszentren abzugeben. Weil sie damit auch an Einfluss verlieren und sie ihre Sportler dort oftmals nicht optimal betreut sehen. Die Zentralisierung der Besten in Leistungszentren führt aus Vereinsperspektive oftmals zum personellen Ausbluten in den Vereinen. Dort kennt man die eigenen Leistungsträger oft nicht mehr. Ihre Vorbildfunktion gegenüber der Jugend können sie gar nicht wahrnehmen. Ein Kollateralschaden auf dem Weg nach Olympia, ja, aber eben auch ein weiterer Baustein, der zu mangelnder Identifikation mit dem Rudersport führt.

Nicht umsonst hat sich die „Interessensgemeinschaft Leistungssport“ (IGL) gebildet, die den Zentralisierungsansatz des Ruderverbandes kritisiert und einen dezentralen Ansatz befürwortet, der inhaltlich und räumlich dichter bei den Athleten ansetzt. Aber auch dichter an den Vereinen, sodass sich berechtigte Kritiken oftmals mit Lobbyismus in eigener Sache mischen und zu einem spannungsgeladenen Verhältnis zwischen DRV und IGL-Vereinen beitragen, sodass diese Nahtstelle zwischen Verband und Vereinen komplizierter geworden ist.

Ein Beispiel für solche Wirrungen ist die Besetzung des Männer-Zweiers, der eigentlich in Dortmund trainieren müsste. Doch bei der Ausscheidung 2020 setzen sich die Berliner Anton Braun/Rene Smela gegen die Dortmunder Boote durch. Dadurch geriet dort zunächst die Besetzungshierarchie durcheinander und die Berliner trainierten in Berlin und vertraten Deutschland bei der EM in Poznan. Im Vorfeld der Olympia-Nachqualifikation in Luzern konnten sich Braun/Smela erneut bei der Ausscheidung 2021 durchsetzen, dann aber brach das Duo aus persönlichen Gründen auseinander. Der Berliner Ruder Club wollte den Zweier nun mit einem eigenen Ruderer nachbesetzen, doch dies lehnte der Verband ab. Am Ende verpasste der Zweier mit den nachbesetzten Hamburgern  Kammann/Dunkel in Luzern endgültig die Olympia-Qualifikation.

Die Posse um den Riemenzweier zeigt, wie riskant selbst im Kleinboot das dezentrale Training sein kann und wie wichtig eine gesunde Gruppengröße ist, um daraus die jeweils besten Boote bilden zu können. Das Beispiel steht auch dafür, wie unklar und von der Öffentlichkeit kaum nachvollziehbar sportliche Entscheidungen fallen.

Ebenso wichtig - wenn nicht gar wichtiger - als die räumliche Konzentration der Sportler an einer Trainingsstätte ist deshalb die zentrale inhaltliche Steuerung der Leistungsüberprüfung und Selektion. Die Kriterien und die Überprüfung derselben müssen für alle klar definiert, nachvollziehbar und überprüfbar sein. Betreuung der Sportler und Auswahl sollten nicht in einer Hand liegen.

Während von Vereinsseite hier mehr Transparenz und Kommunikation eingefordert wird, beklagt Sportdirektor Mario Woldt, dass grundsätzlich selbst bei einfachsten Entscheidungen „vielfältige Einflussfaktoren und mühsame und aufwendige Entscheidungswege zu beachten sind. Es gibt zu viel Drumherum, das sehr viel Energie frisst.“ Kurz: Es sind zu viele Personen beteiligt, es gibt zu wenig geordnete Entscheidungsprozesse. Letztlich beklagen beide Seiten die gleichen Missstände, lediglich aus unterschiedlicher Richtung.

Fazit: Regeln und Kompetenzen müssen klar und verbindlich definiert sein.

 

7. Zukunft – weiter so oder Bruch?

Kann der Verband aus diesem gesamten System überhaupt austeigen? Will er es überhaupt? Und sollte er es? Auf rund acht Millionen Euro beziffert DRV-Vize Moritz Petri die Zuwendungen des BMI für den Leistungssport im Rudern für das Jahr 2020, Kaidel: „Das sind 90 Prozent des Leistungssportetats.“ Die IGL stellt eine ganz andere Berechnung auf, bei der Bund und DOSB gar nicht die großen Zahlmeister des Leistungssports sind. Der Gesamtbedarf im Leistungssport wird mit 55,8 Millionen Euro beziffert. In Wahrheit würden die Vereine durch die Unterstützung ihrer Leistungssportler den Löwenanteil daran tragen – und die Leistungssportler selbst in Form von sog. Opportunitätskosten, dem Geld also, das sie hätten verdienen können, wenn sie sich gegen eine Ruderkarriere entschieden hätten.

Je nach Berechnungsmodell ist die Dominanz des Bundes unterschiedlich zu gewichten, klar ist jedoch, dass die vom Bund zur Verfügung gestellten Finanzmittel den Finanzbedarf im Leistungssport nicht abdecken. Doch die Spielregeln, wie sich der olympische Sport, und damit das Rudern, zu organisieren haben, werden stark vom BMI beeinflusst. In erster Linie soll da gefördert werden, wo Medaillen zu erwarten sind, mit Abstrichen dort, wo Potenzial zu erwarten ist. In der sogenannten Potenzialanalyse, die die PoTAS-Kommission des BMI 2019 durchgeführt hat – allerdings noch ohne Berücksichtigung der Ergebnisse von Tokio –  landete der Deutsche Ruderverband im Potenzial auf dem viertletzten Rang der 25 überprüften olympischen Sommersportarten und bei den Strukturen sogar auf dem letzten Rang.

Als Hauptmangel wurde ein fehlendes einheitliches Nachwuchskonzept und in der Führungsstruktur mangelnde Richtlinienkompetenz der hauptamtlichen Kräfte wie Sportdirektor und Generalsekretär bemängelt. Im DRV, der sich als Verband der Vereine versteht, wäre eine vollständige Übertragung der Kompetenzen auf das Hauptamt einhergehend mit einer Delegitimierung der Vereine als Kontrollinstanz des Leistungssports. Einen Ausweg aus diesem Dilemma will im Falle seiner Wahl der neue Vorsitzende Moritz Petri dem Rudertag im Oktober vorschlagen: Innerhalb eines Jahres will er den Verband umstrukturieren und klar unterscheiden zwischen einer hauptamtlichen Verbandsführung (Präsident, Sportdirektor, Generalsekretär) und einem ehrenamtlich geführten Aufsichtsgremium (siehe Interview Seite 30ff).

Ein ganz anderer Schritt in Richtung Professionalisierung wäre eine Ausgliederung des A-Kaderbereichs aus der bestehenden Verbandsstruktur ähnlich wie es einige Fußballvereine der Bundesliga vollzogen haben. Der e.V. für den Unterbau und Breitensport, der Kaderbereich als Geschäftsbetrieb mit eigener wirtschaftlicher Verantwortung. Wirklich realistisch sind solche Konstrukte nur, wenn es gelänge, einen Unterstützerpool aufzubauen, der Verband und Kader im etwas kleineren Rahmen finanziell absichert – man muss ja nicht immer in Sabaudia trainieren.

Und es gäbe noch eine weitere Alternative: Statt sich auf Olympische Spiele zu fixieren, ein Ereignis, das nur alle vier Jahre stattfindet und einen Vierjahreszyklus in Gang setzt, dem sich alles unterordnet, könnte man die Ressourcen weiter unten für die Gesundung der Basis einsetzen: den Jugendsport mehr fördern, die Regattalandschaft wiederbeleben und um Leistungssport unterhalb des Hochleistungssports zu entwickeln. Gemeinsam mit anderen Ländern ließe sich eine wertige und attraktive Regatta-Serie schaffen – mit Ruderperlen wie Henley, Bled, Rendsburg und Veranstaltungen wie der Ruder-Bundesliga. Auf diese Weise gäbe es außer Weltcups und Weltmeisterschaften mehr sportliche Ziele für das Leistungsrudern – diese Zwischenebene ist durch die Olympiaausrichtung aus dem Blick geraten. Wer aus dem Leistungssport fällt, fällt ins Nichts.

Fazit: Es gibt mehr als nur die olympische Idee.

 

Rudernation Deutschland

Die Antwort auf die Frage, ob Deutschland noch eine Rudernation ist, beantwortet sich auf vielen Ebenen. Keiner der hier angesprochenen Faktoren – und es gibt sicherlich weitere – ist unumkehrbar oder zwangsläufig. Überall sitzen und entscheiden Menschen: Sportler, die sich für oder gegen eine Karriere entscheiden, Trainer, die dies fördern oder behindern, Funktionäre, die sich für die Sache oder für sich selbst einsetzen. Vier Zielbereiche sind es, um die sich die Verbände und Vereine stärker kümmern müssen, wenn der Anschluss international gehalten werden soll: 1. professionellere Strukturen im Leistungssport und klare Zieldefinitionen, 2. größere berufliche und persönliche Absicherung der Athleten während und nach der Ruderkarriere, 3. aktivere Nachwuchsarbeit, um den Pool der Talente zu vergrößern, 4. mehr wertige Veranstaltungen für den Leistungssport neben der Weltcup-Ebene. Auch das Dreieck Athleten-Trainer-Funktionäre bzw. das Dreieck Vereine-Verbände-BMI muss geprüft und neu justiert werden. Für diese Innovationen sind die nötigen Abwägungen und Entscheidungen jetzt zu treffen, um – nicht in Paris 2024, sondern - in Los Angeles 1928 wieder als führende Rudernation wahrgenommen zu werden.   

Thomas Kosinski

 

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