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Aktuelles zum Thema Rudersport.

Sylvia Pille-Steppat: Meine drei Rennen in Tokio

Zwei Ruderer hat der DRV bei den paralympischen Wettbewerben am Start. Die beiden Einerfahrer Marcus Klemp und Sylvia Pille-Steppat. Die ehemalige Marathonläuferin, die vor 19 Jahren an MS erkrankte, ist das erste Mal bei
paralympischen Spielen und schreibt für rudersport über ihre Zeit in Tokio.

Das erste, was uns nach dem langen Flug nach Tokio begegnet, ist der lange „Corona Testmarathon“ am Flughafen, der sich gefühlt ewig hinstreckt. Ich bin froh, am Abend endlich in unserem Apartment im olympischen Dorf anzukommen. Hier herrscht eine tolle Atmosphäre mit den vielen Sportlern aus so vielen Ländern.

 

Montag, 23. August:

Wohnen mitten im olympischen Dorf

Nach einem Tag zur Eingewöhnung sind wir gestern das erste Mal auf der Regattastrecke. Es ist eine schnelle Strecke und auch der Wind kam als idealer Schiebewind aus der richtigen Richtung, aus Südwesten. Heute hatten wir allerdings Gegenwind, das Wasser war dennoch relativ ruhig, was hier ja eher selten der Fall ist. Die Regattastrecke liegt nahe am Meer, direkt im Hafen von Tokio. Beim Training habe ich ein gutes Gefühl. An der Strecke habe ich endlich auch die anderen Ruderer und Ruderinnen wiedersehen können. Es ist schön, sich nach so langer Zeit endlich wieder zu begegnen. Es waren ja viele Wettkämpfe ausgefallen wegen Corona.

Wir dürfen uns nur im olympischen Dorf aufhalten. Es liegt wunderschön und ist von Wasser umgeben. Ich nutze die Zeit, um ein wenig durch das Dorf zu bummeln. Es gibt viele Hochhäuser und alle Nationen haben ihre Quartiere mit ihren Länderflaggen geschmückt. Man kann also gleich erkennen, wer in welchem Gebäude wohnt. Neben uns wohnen die Brasilianer, die ihr Haus sehr schön gestaltet haben. Kleinere Nationen wie wir wohnen zusammen mit anderen in einem Haus. Direkt neben unserem Apartment wohnen Sportler aus Moldawien. Wir selbst wohnen zu fünft in unserem Apartment: Charlotte Hebbelmann, meine Trainerin, Marcus Klemp, sein Trainer Jochen Weber und Thomas Friese, unser Physio, der sich intensiv um uns kümmert.  Dreh- und Angelpunkt des Dorfes ist die große Mensa, wo es alles zu essen gibt, was man sich vorstellen kann. Angefangen von Pizza und Pasta bis zu asiatischen und afrikanischen Gerichten – aus allen Ländern etwas, da hier ja auch fast alle vertreten sind. Es ist ein kleiner Sport, die Pins anderer Länder zu sammeln. Beim Tauschen kommt man ein bisschen ins Gespräch und ich habe so schon etliche Athleten aus anderen Sportarten kennengelernt.

 

Mittwoch, 25. August: Highlight

Eröffnungsfeier

Die einzige Möglichkeit, wegen der strengen Auflagen rauszukommen und etwas von der Stadt zu sehen, ist die Fahrt im Shut-
tlebus zur Regattastrecke. Sie dauert ungefähr eine halbe Stunde und man bekommt so einen kleinen Eindruck von der Stadt. Dennoch: Mir geht es total gut hier und ich finde es aufregend, all das zu erleben. Tokio ist eine beeindruckende Stadt. Es wird hier schon früh, so gegen halb sieben, dunkel, und man sieht die Lichter der Stadt.

Ein Highlight ist die Eröffnungsfeier. Wir sind beim Einmarsch dabei, viel mehr sehen wir allerdings nicht. Die Feier beginnt um 20 Uhr, wir treffen uns bereits um halb fünf zum Teamfoto, dann werden wir auf die Busse verteilt, was ja bei Rollis oft ein bisschen länger dauert. Schön ist aber, dass ich Kontakt zu den anderen Sportlern aus Deutschland bekomme. Die Fahrt zum Stadion kann ich sehr genießen. Um halb sieben sind wir am Stadion. Alle Athleten müssen im Bus warten, die ganze Straße ist voller Busse. Auf den Wegen stehen die Menschen und winken uns zu, halten Schilder hoch. Ich habe gar nicht den Eindruck, dass die Bevölkerung gegen die Paralympics ist, wie ich oft lese. Alle begegnen uns sehr freundlich und ich fühle mich willkommen. Als wir ins Stadion dürfen, ist die Feier schon in vollem Gange. Es ist natürlich ein bisschen komisch, in ein leeres Stadion einzumarschieren, aber das wussten wir ja vorher. Aber so ganz leer ist es doch nicht, die vielen Freiwilligen begrüßen uns – und es ist toll, all die anderen Nationen zu sehen, vor allem die Sportler aus den Ländern, mit denen wir im Rudern sonst nicht so viel zu tun haben. Hinterher hätten wir noch etwas bleiben können, aber da wir morgens immer früh aufstehen, um zeitig zu trainieren, sind wir schnell zurück ins Dorf gefahren, um ein paar Stunden Schlaf zu finden.

Überhaupt: Die Tage vergehen sehr schnell, ich habe immer etwas zu tun. Morgen ist endlich der Vorlauf. Ich starte im zweiten Lauf, die Ruderinnen aus Israel und der Ukraine sind die beiden größten Konkurrenten, mit dabei sind noch Japan, Argentinien und Kenia. Gegen die Kenianerin bin ich noch nie gefahren.Heute beim Training ist das Wasser ruhig bei leichtem Gegenwind. Ich rechne damit, dass es morgen so bleibt. Es ist allerdings sehr heiß, heute sind es 35 Grad. Schon an der Startbrücke liegen wir in der prallen Sonne, es wird also auch eine Herausforderung mit der Hitze. Die Ruderin aus Norwegen und die Israelitin sind die beiden Favoriten jeweils in ihrem Vorlauf. Da jeweils nur die Erste direkt ins A-Finale einzieht, richte ich mich auf den Hoffnungslauf am Samstag ein, das wird für mich das wichtigere Rennen sein. Ich fühle mich gut und gehe zuversichtlich ins Rennen.

 

Syvlvia mit ihrer Trainerin Charlotte Hebbelmann.

 

Freitag, 27. August:

Schwieriger Start im Vorlauf

Die Bedingungen sind heute schwierig, Gegenwind und ein bisschen Seitenwind. Das macht die Strecke unberechenbar. Das bekomme ich schon am Start zu spüren. Gleich am Anfang werde ich gegen die Bojenkette gedrückt und bleibe hängen. Ich muss erst einmal im Rennen ankommen, finde dann aber schnell meinen Rhythmus und kann so fahren, wie ich es mir vorgenommen habe. Meine Zwischensprints klappen ganz gut und ich komme hinter Moran Samuel aus Israel und Anna Scheremet aus der
Ukraine als Dritte ins Ziel.

Nun höre ich, dass bei der Siegerin etwas mit der Sitzkonstruktion nicht in Ordnung gewesen ist. Die Rückenlehne bewegte sich wohl zu weit nach hinten. Die Kommission hat ihren Sieg aberkannt und setzte sie auf den letzten Platz. Mich überrascht das sehr, denn Moran ist eine sehr faire Sportlerin und sehr erfahren, war 2012 in London schon dabei. Ich bin damit Zweite und muss mit der Vierten und Sechsten aus meiner Gruppe in den Hoffnungslauf, dazu kommen die Dritte und Fünfte aus dem anderen Vorlauf. Das bedeutet, dass ich morgen erneut gegen Moran fahren muss, Platz 1 quasi vergeben ist – und nur die beiden ersten kommen ins Finale. Aber eigentlich sollte das morgen trotzdem klappen. Die stärkste Konkurrentin, Sejeong Kim aus Korea, war im Vorlauf 25 Sekunden langsamer als ich.

 

Samstag, 28. August:

Schwieriger Start im Vorlauf

Ich bin total happy, dass ich es ins Finale geschafft habe. Das ist mein großes Ziel gewesen! Ich bin viel besser ins Rennen gekommen als gestern. Die Koreanerin hat ordentlich Gas gegeben, ich musste um meinen zweiten Platz kämpfen. Sejeong Kim ist heute persönliche Bestzeit gefahren und hat mich herausgefordert. Aber ich bin auch mit dem Wind gut zurechtgekommen und konnte gleich am Start einen kleinen Vorsprung herausfahren. Es war dann leichter, sie zu kontrollieren und mit den Zwischenspurts alle 250 m den Vorsprung zu vergrößern. Auf den letzten 250 m war mir dann klar, dass nichts mehr schiefgehen kann, der Vorsprung im Ziel betrug dann auch über 16 Sekunden. Jetzt freue ich mich auf das Finale. Die beiden vorderen Plätze sind für mich vergeben, aber vielleicht kann ich mit der Ukrainerin und der Französin, die im anderen Hoffnungslauf immerhin eine langsamere Zeit als ich hatte, mithalten. Ich werde es auf jeden Fall probieren.

 

Sonntag, 29. August:

Finale mit ein bisschen Regattastimmung

Anders als an den beiden ersten Renntagen sind wir nicht ganz so früh aufgestanden. Eigentlich möchte ich vor den Rennen früh um sieben schon einmal aufs Wasser, um die Bedingungen zu erkunden, mich warm zu machen und zu mir zu kommen. Das Finale heute ist das Rennen eine Stunde später und wir haben entschieden, erst später zur Regattabahn zu fahren, weil es keinen Sinn macht, sich schon drei Stunden vor dem eigentlichen Rennen warm zu fahren. Deshalb stehe ich erst um 6 Uhr auf, Rennbesprechung mit Charlotte ist noch vor dem Frühstück in der großen Mensa. Ich esse nicht so üppig wie sonst, achte auf magenverträgliche Kost, damit ich beim Rennen keine Probleme bekomme. Um kurz nach 8 Uhr geht es mit dem Shuttle zur Strecke. Unterwegs winken uns die Passanten wie jeden Morgen zu und Drücken die Daumen. Ich finde das toll, wie die Leute hier mitgehen und uns anfeuern. Wir sind früh genug da und kontrollieren noch einmal das Boot. So langsam rückt das Rennen näher. Um mich ein wenig einzufahren, lege ich frühzeitig ab. An den Fahnen kann ich erkennen, dass wir auch heute wieder Wind schräg von vorn haben, für mich als leichte Ruderin nicht optimal. Es ist zwar für alle gleich, und damit fair, aber ich komme damit nicht ganz so gut zurecht.

Plötzlich ist es soweit, die Boote werden zum Start aufgerufen. Alle Ruderinnen werden kurz vorgestellt. Die Fairnesskommission hat deshalb die Bahnen neu verteilt. Birgit Skarstein, die Favoritin, startet von Platz 1, ich bekomme Bahn 5 statt 6, sodass die Französin Natalie Benoit direkt neben mir fährt.

Am Start passe ich besonders auf, um nicht wie am ersten Tag hängenzubleiben. Natalie ist ein bisschen vor mir, aber solange ich aus den Augenwinkeln noch ihr Heck sehe, bin ich noch dran. Aber dann reißt es ab und mir wird klar, dass ich sie nicht einholen werde. Die Ukrainerin auf der anderen Seite sehe ich gar nicht. Ich fahre mein Rennen, setze meine Zehner so, wie ich es mir vorgenommen habe. Manchmal sind es nur sieben kräftige Schläge, weil es durch den Gegenwind doch sehr anstrengend ist.

Als ich in den Zielbereich komme, höre ich einige Zuschauer von der Tribüne rufen, andere Sportler, vor allem die Kanuten, die gestern angekommen sind, aber auch Charlotte und Thomas, die höre ich mt ihren Anfeuerungsrufen. Es kommt sogar so etwas wie Regattastimmung auf, als ich als fünfte die Ziellinie überquere. Ich bin damit ich sehr zufrieden, ja, ich bin stolz darauf. Ich habe die Leistung erbracht, die ich von mir erwartet habe. Alles andere wäre eine große Überraschung gewesen.

Ich lege an und verfolge die Siegerfeier. Im Anschluss muss auch schon das Boot abgeriggert, alles verpackt werden. Sitz, Schwimmer und Ausleger werde ich mit ins Flugzeug nehmen, damit ich nicht auf den Container warten muss, um zu Hause wieder trainieren zu können. Das ZDF möchte ein Interview von mir. Auf die Frage, wie es für mich weitergeht, kann ich mir vorstellen, dass ich in drei Jahren in Paris gern wieder dabei wäre. In Tokio, meinen ersten paralympischen Spielen, hat es mir so gut gefallen, dass ich – nach einer kurzen Pause – fleißig trainieren werde für Paris 2024.                         

 Sylvia Pille-Steppat