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„Ich schaue nicht auf Medaillen, sondern auf die Leistung“

Ralf Holtmeyer ist Leitender und scheidender Bundestrainer des Deutschen Ruderverbandes. Der Erfolgstrainer hört nun auf und blickt zurück auf Tokio, aber auch auf seine 45-jährige Trainerlaufbahn.

 

Herr Holtmeyer, Sie haben erklärt, zwei Medaillen in Tokio seien für sie okay. Ist dieses Ergebnis wirklich okay?

Für mich schon, denn ich schaue weniger auf die Medaillen, sondern mehr auf die Leistung. Der Doppelvierer der Frauen war klar auf Silberkurs, bevor er aufgrund der extremen Windverhältnisse hängenblieb. Da waren ja nicht nur wir betroffen: Der sehr gute norwegische leichte Doppelzweier ist gekentert und der italienische Vierer, der Medaillenkandidat war, hat ebenfalls gekrebst. So etwas kann immer passieren. Mir haben die Mädels leidgetan. Ich kann mich nicht erinnern, schon einmal so eine Enttäuschung am Steg erlebt zu haben.

 

Dies gehört in die Kategorie Pech, was zum Sport gehört. Ebenso wie Glück. Aber Glück haben wir nicht in Tokio, oder?

Glück und Pech gleichen sich auf Dauer aus, in Tokio aber hat es uns jedoch gefehlt.

 

Kein Glück hatte auch der Medaillenkandidat Oliver Zeidler. Oder was fehlte hier? Ist die Geschichte denn überzeugend, dass er auf rauem Wasser nicht fahren kann, weil er erst fünf Jahre rudert? Oder fehlte einfach die Kraft?

An der Kraft lag es nicht. Am nächsten Tag ist er die ersten 1.000 m im B-Finale genauso schnell gefahren wie die Medaillengewinner im A-Finale…

 

….aber die Endzeit hätte nur für Platz 5 im A-Finale gereicht.

…ja, aber da musste er auch nicht mehr viel tun, weil er weit führte. Er ist einfach ein Späteinsteiger. Wenn man mit 20 Jahren anfängt zu rudern, dann fehlen entscheidende Jahre, in denen sich bestimmte Fähigkeiten ausbilden. Und er ist auch sehr groß, sein Schwerpunkt liegt sehr hoch. Letztes Jahr auf der EM in Poznan hatte er ähnliche Probleme bei Welle und dieses Jahr auch beim Weltcup in Sabaudia.

 

Oliver Zeidler ist erst später und nicht mit der Mannschaft nach Tokio gereist, hat in München auf dem Ergo trainiert bei laufender Dusche und geöffneter Saunatür. Ist so eine Vorbereitung nicht höchst unprofessionell?
 

Einerfahrer sind immer auch Einzelgänger, das steckt ein wenig in ihrer Natur. Allerdings, da haben Sie Recht, selbst Peter-Michael Kolbe, Thomas Lange oder Katrin Rutschow haben immer an der gemeinsamen Abschlussvorbereitung teilgenommen. Aber solange jemand Erfolg hat, kann und sollte man da nichts machen.

 

Wenn der Erfolg ausbleibt, setzt die Kritik ein.

Erfolg und Misserfolg liegen dicht beieinander und sind immer eine Gratwanderung. Das Team Zeidler arbeitet erst seit drei Jahren international, da fehlt es logischerweise noch an Erfahrung – und manchmal auch an Fingerspitzengefühl. So eine Diskussion über die Höhe der Medaillenprämie im Vorfeld der Spiele zu führen, ist einfach ungeschickt.

 

Hat Sie denn der Deutschland-Achter begeistern können?

Das war im erwarteten Rahmen. Beim Achter sind wir einfach erfolgsverwöhnt. Neuseeland ist ein super Finale gefahren, aber ein Ausreißer war das nicht. Die Boote sind alle innerhalb eine Bootslänge ins Ziel gekommen. Die Niederlande haben ihren Vorlauf gewonnen und sind am Ende Fünfte geworden – da sieht man, wie eng alles war. Unser Achter hatte im Vorfeld doch mit einigen Problemen zu kämpfen. Richard Schmidt war kurz vor Beginn der Spiele noch verletzt, es gab drei Coronafälle, so etwas wird hinterher schnell vergessen.

 

Dennoch bleibt die Medaillenausbeute insgesamt schmal. Muss man sich um die Zukunft Sorgen machen?

Grundsätzlich nicht. Es kommt darauf an, wie der Verband nun auf diese Situation politisch reagiert. Die Fragen zur Zentralisierung und Dezentralisierung werden ja sofort wieder in die Diskussion geworfen. Meist von Vereinen, die Ambitionen haben, Leistungszentrum zu sein, die aber Verein sind. Sportlich fehlen uns die Jahrgänge Mitte Zwanzig. Wir haben einige Dreißigjährige, aber die mittleren Jahrgänge fehlen uns. Das ist eine aber normale Schwankung.

 

Wirklich? Wir haben doch immer zahlreiche Rudertalente in Deutschland. Man muss sie nur finden und fördern. Wenn wir jetzt keine haben, dann ist doch etwas schiefgelaufen, oder nicht?

Finden und fördern, das sagt sich so schön. Wir hatten in den letzten Jahren Probleme im U23-Bereich, da gab es nicht so viele Medaillengewinner. Normalerweise schlagen diese auch die Älteren. Wir hätten letztes Jahr während der Corona-Zeit alles auf den Prüfstand stellen können. Ich bezweifele nur, ob sich da so viele Nachwuchsleute angeboten hätten.

 

In Tokio fiel auf, dass viele Nationen auch während der Corona-Zeit ihre Mannschaften systematisch von unten verstärkt haben. Wir dagegen haben 2020 mehr oder weniger fortgeschrieben, die Bootsplätze wurden nicht neu ausgefahren.

Ja, das stimmt. Da hätten wir intensiver rangehen müssen.

 

Sie haben jüngst erklärt, dass man die „Vereine dazu bringen müsste, mehr in der Breite zu machen“. Passiert da nicht genug? Es gibt doch viel Schüler- und Jugendrudern, Trainingslager, Regatten, Meisterschaften, jetzt natürlich durch Corona eingeschränkt. Ist das alles zu wenig?

Ich meine das anders: Jeder ältere Trainer kann Ihnen auf Anhieb fünf bis zehn Vereine nennen, die früher intensiv Leistungssport getrieben haben. Es geht darum, im Jugendbereich gute Mannschaften zu bilden, homogene Gruppen, aus denen die Talente entwachsen. Wir haben fast 500 Vereine in Deutschland. Wie viele davon machen eine intensive Jugendarbeit? Fünf Prozent? Ich glaube, an dieser Stelle sollte investiert und gefördert werden, vielleicht mit einem von Sponsoren unterstützten Belohnungssystem für Vereine mit guter Jugendarbeit.

 

Herr Holtmeyer, Sie sind jetzt seit 45 Jahren Trainer, davon 35 Jahre für den DRV. Fällt es ihnen schwer, jetzt aufzuhören?

Alles hat seinen Anfang und sein Ende. Die Altersgrenze gibt es ja nicht ohne Grund. Ich habe mich an verschiedensten Stellen versucht einzubringen und das ist aus meiner Sicht mehr oder weniger gelungen. Jetzt freue ich mich auf mehr Freizeit.

 

Sie haben 1986 den Achter übernommen und zwei Jahre später in Seoul Gold geholt…

…ach, jetzt kommen die alten Erfolge. Aber ich sage Ihnen, wir waren auch zweimal nur Sechster. Also Misserfolg gehört auch dazu. Durchhaltevermögen und Lernen aus Misserfolgen, das ist für einen Trainer wichtig.

 

Was hat sich seit damals verändert?

Eigentlich gar nicht so viel. Aber ich habe mich verändert. Damals war ich 32 Jahre alt und war für die Ruderer so etwas wie ein älterer Bruder. Ansgar Wessling war gerade einmal fünf Jahre jünger als ich. Heute gehöre ich schon fast zur Großvatergeneration. Allein schon deshalb ist Aufhören sinnvoll, die Topathleten wollen ja nicht von Opas trainiert werden.

 

Sie haben Höhen und Tiefen erlebt, Peking 2008 war sicherlich ein Tiefpunkt. London 2012 ein Höhepunkt. Wie kommt man sportlich bergauf? Und was führt bergab?

In Peking habe ich allerdings den Frauenachter trainiert. Wichtig ist, dass man eine klare Lageanalyse macht, was der DRV oft nicht schafft. Grundlage des Erfolgs sind Talent und Training. Aus Durchschnittssportlern kann man keine Olympiasieger machen. Sie brauchen die richtigen Leute. 2009 habe ich den Männer-Achter übernommen und schnell gemerkt, dass sie etwas können. Zunächst haben wir daran gearbeitet, an uns zu glauben und sind dann intensiv ins gemeinsame Training eingestiegen, haben konsequent zusammen in der Mannschaft trainiert. Da kam kein anderer Trainer vor, kein Verein, kein Funktionär. Was uns 2009 geeint hat, war der Misserfolg, den wir zuvor hatten.

 

Sie haben unterschiedlichste Ruderer erlebt von Roland Baar bis Hannes Ocik. Aus welchem Holz sind Achterruderer geschnitzt?

Der Unterschied zwischen Achter und Einer ist gar nicht so gravierend. In jedem Achter stecken auch immer andere Boote mit drin. Roland Barr oder Bahne Rabe hätten damals auch Vierer fahren können. Roland Baar hat zu mir immer gesagt: „Ich will mit den Besten fahren, und du bist dafür verantwortlich, dass ich mit den Besten fahre.“ Topruderer wollen Leistung bringen und Erfolg haben und nicht einfach mit ihrem Kumpel fahren, weil sie sich mit ihm gut verstehen. Hinzu kommt die Bereitschaft, alles hinten anstellen zu können, private Dinge, aber auch die berufliche Ausbildung. Gut zu rudern, kostet Zeit, besonders im Großboot, wo viele Abstimmungsprozesse durchlaufen werden müssen.

 

Haben Sie das Schicksal von Bahne Rabe, der sich zu Tode gehungert hat, kommen sehen?

Nein, sonst hätte ich ja noch etwas dagegen unternehmen können. Eigentlich begreife ich das bis heute nicht, dass er damals noch aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Aber er hatte wohl ein Mindestgewicht wieder erreicht. Kurze Zeit später hat er eine Lungenentzündung bekommen und hat es dann nicht geschafft. Früher habe ich gedacht, Bulimie sei eine Jungmädchenkrankheit, aber das ist es eben nicht. Das hat mich dafür sensibel gemacht. Leistungssportler sind manchmal extreme Charaktere. In der Rückschau fallen sicherlich einige Sachen auf, aber das wurde eher als Macke betrachtet. In der Situation kann man nicht erkennen, wohin das führen kann.

 

Wenn Sie eine Best-Of-Mannschaft im Achter aufstellen sollten, wer dürfte nicht fehlen im Boot?

Das ist schwierig, da ja auch unterschiedliche Stile gerudert wurden, die nicht unbedingt zusammenpassen. Sicherlich wäre da Bahne Rabe drin, aber mehr kann ich da gar nicht nennen, weil dann die ungenannt blieben, die auch ins Boot gehören.

 

Welches waren die schönsten Olympischen Spiele für Sie?

1984 in Los Angeles, weil es das erste Mal war. Die Spiele in Kalifornien wurden unglaublich getragen vom Publikum, was ja nun in Tokio völlig fehlte. Wir sind damals nur Vierte geworden, zwar knapp, aber sportlich war es nicht ganz so schön. Persönlich bewertet man Erfolge und Misserfolge ohnehin anders. Meine größte Enttäuschung war die verpasste Olympiaqualifikation 2000. Und ganz persönlich war für mich die Olympiaqualifikation 1980 mit unserem Vereinsachter aus Osnabrück ein Riesenerfolg. Das waren damals alles Bewegungstalente, die seit ihrer Juniorenzeit zusammen gerudert haben, unbekümmert und selbstbewusst. Mit einem Vereinsboot zu Olympischen Spielen, diese Zeiten sind jedoch längst vorbei.

Das Gespräch führte Thomas Kosinski